mit einem Nachtrag am Ende, bezüglich der wissenschaftlichen Diskussion der Titelfrage (bis 2005)
E. Könsgen editierte vor mehr als 25 Jahren, im Jahre 1974, aus einem Manuskript der Bibliothèque Municipale Troyes die Schrift des Johannes de Vepria: Ex Epistolis Duorum Amantium als Dissertationsarbeit. Es handelte sich um Excerpte eines anonymen Liebesbriefwechsels aus dem 12. Jahrhundert. Eine mögliche Urheberschaft Heloïsas und Abaelards war von ihm in den Raum gestellt, allerdings nur mit Zurückhaltung und in aller gebotenen Vorsicht diskutiert worden. Dazu hatte er triftige Gründe: Erstens konnte diese Autorenschaft aufgrund des Fehlens von biographischen Angaben von vorn herein nicht stringent genug bewiesen werden. Zweitens hatte Könsgen wohl auch die nötige Zeit gefehlt, dieser Autorenhypothese weiter auf den Grund zu geben - es handelte sich ja um eine zeitlich terminierte Dissertationsarbeit. Drittens war in den siebziger Jahren die internationale wissenschaftliche Debatte um die Authentizität des anderen, berühmteren Briefwechsels des Paares voll entbrannt. So relativierte Könsgen letztendlich selbst die Urheberhypothese. Er verwies auf ähnliche Liebesbriefe aus Regensburg, die von Dronke editiert worden waren, sowie auf weitere Briefe Marbods von Rennes, Balderichs von Bourgeuil und Hilarius' von Angers, in denen Frauen, die Männer literarisch in den Schatten stellten, als topische Elemente geschildert wurden. Könsgen fand allerdings auch nichts, was eine Urheberschaft Abaelards und Heloïsas sicher ausgeschlossen hätte. So ließ er denn die Frage der Urheberschaft offen.
P. von Moos erwähnte Könsgens Arbeit in seinem kritischen Review der Abaelard-Forschung von 1974, hatte allerdings zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Untersuchung (1972) noch keinen Einblick in die Arbeit gehabt (siehe Peter von Moos, Mittelalterforschung und Ideologiekritik, München 1974, 130f). In einem Artikel des Mittellateinischen Jahrbuchs von 1976 (Peter von Moos, Die Bekehrung Heloisas, MLJ 11, 1976, 120) hielt dann Peter von Moos die Ansicht, die Epistolae seien authentische Briefe Heloïsas und Abaelards, für abwegig. Ähnlich äußerte sich P. Dronke. Er behandelte kurz die Arbeit (z.B. Abelard and Heloïsa in Medieval Testimonies, Glasgow 1976), vertrat aber die Hypothese, dass sich die Charakteristika eines derartigen Briefwechsels auch anderen frühmittelalterlichen Liebesbriefen zuordnen lasse, und dass deshalb ein Rückschluss auf Abaelard und Heloïsa nicht statthaft sei. Die Stellungnahmen Dronkes und von Moos' beruhten allerdings nur auf einer jeweils kurzen Revision der Briefe; um eine weitergehende Begründung ihrer Ansicht haben sie sich bis dato nicht bemüht. Immerhin beschrieb Dronke in seinem Quellenvergleich das notwendige wissenschaftliche Untersuchungsprogramm, das zur Klärung der Authentizität zu vollziehen sei. Bis dahin sollten jedoch nochmals fast 25 Jahre vergehen.
Zunächst wurde in den folgenden Jahren der Diskussion um Abaelard und Heloïsa Könsgens Arbeit nur am Rande diskutiert: 1988 und 1996 erschienen Übersetzungen des Briefdialogs ins Französische und Italienische, ohne dass Könsgens Argumentation in irgendeiner Weise erweitert worden wäre. Die Frage der Urheberschaft wurde von den Autoren nicht weiter verfolgt: Graziella Ballanti, Un Epistolario d'Amore del XII secolo - Abelardo e Eloisa?, Rom 1988; È. Wolff, La lettre d'amour au moyen âge, Paris 1996. Beiläufig wurden die Briefe erwähnt von J. Verger (L'amour castré, l'Histoire d'Heloïse et Abélard, Paris, 1996) und von A. Podlech (Abaelard und Heloïsa oder Die Theologie der Liebe, München 1990). In einigen anderen Veröffentlichungen jüngerer Zeit, z.T. von M. Clanchy und J. Marenbon, wurde die Arbeit Könsgens übergangen. Könsgen sorgte seinerseits nicht für eine spätere Bekanntmachung seiner wichtigen Arbeit, obwohl die Bedeutung Abaelards und Heloïsas und ihre Liebesliteratur für die europäische Geistesgeschichte in den letzten Jahren zunehmend untermauert wurde.
In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre fand dann die Arbeit in der angloamerikanischen Mediävistik wieder Beachtung: Fast zeitgleich erschienen Werke von Jaeger: Ennobling Love - In Search of a lost Sensibility, Philadelphia 1999 und von C. Mews, einem der namhaften Abaelard-Forscher unserer Tage: The Lost Love Letters of Heloïsa and Abaelard, New York, 1999. Beide Autoren kamen aufgrund bestimmter Analogien und vergleichender Literaturbetrachtung zu dem Schluss, dass an der Autorenschaft Abaelards und Heloïsas nicht zu zweifeln sei. Deshalb müsse die Beziehung des Paares neu beschrieben werden. Mittlerweile erschienen weitere Arbeiten von C. Mews und J. Ward, die die entsprechende Urheberschaft als gegeben voraussetzen. Hier nochmals die aufgeführten Titel im Einzelnen:
Diese Frage ist Gegenstand der folgenden Untersuchung. Schon beim bekannteren Briefwechsel des Paares hatte es eine oftmals ideologisch gefärbte Authentizitätsdebatte gegeben, welche vor allem in diesem Jahrhundert bis in die achtziger Jahre hinein erbittert geführt wurde. Bis heute steht fest, dass keine der Schriften Heloïsas und Abaelards im persönlich verfassten Manuskript oder wenigstens in einer zeitgenössischen Fassung überliefert sind. Es steht jedoch ebenso fest, dass die weitere Forschung die historischen Personen Heloïsa und Abaelard wenigstens in Teilaspekten beschreiben, bzw. bestätigten konnte. Die zum Teil Bände füllenden Abhandlungen für und wider eine Autorenschaft des Paares wurden bereits von P. von Moos in seiner wissenschaftskritischen Schrift Mittelalter und Ideologiekritik (München 1974) und - in der jüngsten Entwicklung - von J. Marenbon beschrieben und kritisch hinterfragt: Authenticity Revisited, New York 2000.
Die meisten der bisher vorgebrachten Argumente für und wider die Echtheit des früheren Briefwechsels wurden bei der vorliegenden Untersuchung bewusst nicht berücksichtigt. Denn zur Überprüfung der Urheberschaft der Epistolae Duorum Amantium muss die Echtheit des bekannten Briefwechsels Heloïsas und Abaelards sozusagen als conditio sine qua non vorausgesetzt werden - auch wenn sie letztlich nicht gesichert ist.
Um zu einer möglichst vorurteilfreien Sicht der Dinge zu kommen, wurden fast ausnahmslos zeitgenössische Quellen zur Argumentation herangezogen. Die Schilderung des soziokulturellen Hintergrundes und die literaturgeschichtliche Einordnung, die einen großen Teil der zuletzt erschienenen Werke ausmachen, wurden bewusst außer Acht gelassen. Derartige Ausführungen, bzw. eine literaturgeschichtliche Einordnung, müssen der Fachwissenschaft vorbehalten bleiben. Ehe also nicht anderweitig das Datierungsproblem gelöst ist und die Urheberschaft Heloïsas und Abaelards im Raum steht, wollen wir uns auf einen bloßen Vergleich der genuinen Stimmen verlegen. Unabhängig davon sei dem Leser empfohlen, die Originaltexte der zu vergleichenden Primärquellen vorweg zu lesen. Zur Vermeidung nomenklatorischer Verwechslungen werden im Weiteren folgende Ankürzungen verwendet. Auf ein Literaturverzeichnis wurde verzichtet.
>>>> Parallelen und Analogien, die bei der Erstellung dieser Arbeit auffielen, in den oben erwähnten Publikationen jedoch keine Berücksichtigung gefunden hatten, sind durch Kursivschrift kenntlich gemacht.
In der Tat drängt sich der Gedanke einer Urheberschaft Heloïsas und Abaelards auf, weil sehr viele Eigenschaften von Mulier und Vir - das sind die namentlich ungenannten Briefpartner aus den Epistolae, im folgenden mit M. und V. abgekürzt - auf Heloïsa und Abaelard zutreffen. Das folgende Kapitel stellt diese Übereinstimmungen, die sich zum großen Teil auch in oben genannten Arbeiten an verschiedenen Stellen wiederfinden, in einer (sicher nicht vollständigen) Auswahl vor.
secundis autem et letioribus manus cere imprimamus - lasst uns aber günstigen und froheren Dingen die Hände ins Wachs drücken (M 62)
interroga nuncium - befrage den Boten (V 37)
hos, rogo, ne versus oculus legat invidiosus - diese Verse soll bitte kein missgünstiges Auge lesen (M 69)
crebris me epistolis visitabas - Du suchtest mich mit häufigen Briefen auf (Heloïsa, Brief II)
non multo autem post, puella se concepisse comperit, et cum summa exultatione mihi super hoc ilico scripsit - kurze Zeit später erfuhr das Mädchen, dass sie empfangen habe, und schickte mir mit höchstem Entzücken diesbezüglich einen Brief (Abaelard, Hist. Cal.)
et secretos recessus, quos amor optabat, studium lectionis offerebat - der Eifer der Lesung bot die geheimen Winkel, die sich die Leidenschaft wünschte (Abaelard, Hist. Cal.)
quoque minus suspicionis haberemus, verbera quandoque dabat amor, non furor - um weniger in Verdacht zu geraten, gab es hin und wieder auch Schläge, aus Liebe, nicht aus Zorn (Abaelard, Hist. Cal.)
et quod omnes deprehendunt, non est facile unum latere - und ist nicht leicht, das eine zu verbergen, was alle an die Glocke hängen (Abaelard, Hist. Cal.)
vale, spes juventutis mee - lebe wohl, Du Hoffnung meiner Jugend (M 5)
arescentibus floribus tue juventutis - wenn die Blüten Deiner Jugend welken (M 1)
o decus juvenum - oh Zierde der jungen Männer (M 21)
adolescentula quedam nomine Heloysa - ein sehr junges Mädchen namens Heloïsa (Abaelard, Hist. Cal.)
in huius... adolescentule amorem totus inflammatus - ganz von Liebe zu diesem blutjungen Mädchen entflammt (Abaelard, Hist. Cal.)
tanto autem facilius hanc mihi puellam consensuram credidi - um so leicher glaubte ich, mir dieses Mädchen willfährig machen zu können (Abaelard, Hist. Cal.)
iuvenculam - als ganz junges Mädchen (Heloïsa, Brief II)
et iuventutis et forme gratia preminebam - ich stach hervor, sowohl an Jugend als auch an Schönheit (Abaelard, Hist. Val.)
quod enim bonum animi vel corporis tuam non exornabat adolescentiam - denn welches Gut des Geistes oder des Körpers schmückte nicht Dein beginnendes Erwachsenenalter (Heloïsa, Brief II)
regnum dei - die Herrschaft Gottes (M 7)
deum testem habeo - ich habe Gott zum Zeugen (M 11)
optimam partem Marie...deo teste - den besten Teil Mariens... bei Gott als Zeugen (M 86)
si deo placuerit - wenn es Gott gefallen hat (M 49)
solius dei gracia - durch die Gnade des einen Gottes (M 79)
magistro inquam tanto, magistro virtutibus, magistro moribus - einem so großen Lehrer, sage ich, einem Lehrer aufgrund seiner Tugenden, einem Lehrer aufgrund seines Charakter (M 49)
magistro suo nobilissimo atque doctissimo - ihrem allervornehmsten und hochgelehrten Lehrer (M 112)
philosophie artis impleat pericia - er möge mich mit der Kenntnis der Kunst der Philosophie erfüllen (M 5)
fateor ex philosophie tue diviciis maximam michi fluxisse et fluere copiam gaudiorum - ich gestehe ein, dass aus dem Reichtum Deiner Philosophie mir die allergrößte Fülle an Freuden geflossen ist und noch fließt (M 33)
cui jure cedit francigena cervicositas et simul assurgit tocius mundi superciliositas - dem mit Recht die Starrköpfigkeit der Franzier nachgibt und zugleich der Hochmut der ganzen Welt ersteht (M 49)
splendor doctoris noctem fugat atque prioris - der Glanz des Lehrers vertreibt die Nacht des Vorgängers (M 66)
qui nobis invident, utinam invidendi longa eis materia detur - hoffentlich ist denen, die auf uns neidisch sind, noch lange Stoff zum Neid gegeben (V 28)
cum edax malorum hominum invidia nos pro libito nostro iungi non patitur - wenn die gefräßige Missgunst schlechter Menschen uns nach unserem Verlangen nicht zusammen kommen lässt (V 54)
et famam, que de nobis orta est, paulatim attenuemus - damit wir das üble Gerücht, das über uns entstanden ist, allmählich auflösen (V 101)
perveni tandem Parisius - schließlich bin ich nach Paris gelangt (Abaelard, Hist. Cal.)
in scolis Parisiace - in den Schulen von Paris (Abaelard, Hist. Cal.)
reversus sum in Franciam - ich bin nach Franzien zurückgekehrt (Abaelard, Hist. Cal.)
in arte dialetica nomen meum dilatari cepit - mein Name hat begonnen, sich in der Kunst der Dialektik zu verbreiten (Abaelard, Hist. Cal.)
et quantum antea clericis profecissem - und wie viel ich früher den Klerikern von Nutzen war (Abaelard, Hist. Cal.)
ad me confluentes clerici - bei mir strömten die Kleriker zusammen (Abaelard, Hist. Cal.)
scolas mihi iamDuDum destinatas atque oblatas... annis aliquibus quiete possedi - die mir schon längst zubestimmten und angebotenen Schulen... hatte ich einige Jahre in Ruhe inne (Abaelard, Hist. Cal.)
...ut me non minorem gratiam in sacra lectione adeptum iam crederent quam in philosophica viderant - so dass sie schon glaubten, ich hätte nicht weniger Anerkennung in der Lesung der Heiligen Schrift erlangt, als sie in der Philosophie gesehen hatten (Abaelard, Hist. Cal.)
Peripateticus Palatinus qui logicae opinionem praeripuit omnibus coaetaneis suis - der Peripatetiker aus Le Pallet, der unter all seinen Zeitgenossen die führende Meinung in der Logik vertrat (Joh. von Salisbury, Metalogicon)
affluentissime tibi paulo ante mundi hujus gloria blandiebatur...nulla terrarum spatia, nulla montium cacumina, nulla concava vallium, nulla via difficilis licet obsita periculo et latrone, quominus ad te properarent retinebat - auf das Überfließendste schmeichelte Dir kurz zuvor der Ruhm der Welt... kein Landstrich, keine Bergesgipfel, keine Talsenken, kein Weg voller Gefahr und Raubgesindel war zu schwer, dass er die zurückhielt, die zu Dir eilten (Fulco von Deuil, Epist.)
quis etenim regum aut philosophorum tuam exequare famam poterat, que te regio aut civitas seu villa videre non estuabat - wer denn von den Königen oder Philosophen hätte Deinem Ruhm gleichkommen können, welche Gegend oder Stadt, welcher Hof brannte nicht darauf, Dich zu sehen (Heloïsa, Brief II)
maxime magistrorum invidiam atque odium adversum me concitavi - am allermeisten habe ich den Neid und Hass der Lehrer gegen mich erregt (Abaelard, Hist. Cal.)
legatus coram omnibus invidiam Francorum... detestaretur - der Legat missbilligte vor allen Leuten den Neid der Franzier... auf das Schärftste (Abaelard, Hist. Cal.)
aliena in me succensa est invidia - fremder Neid ist gegen mich entbrannt (Abaelard, Hist. Cal.)
vehementi commotus invidia - heftig durch die Missgunst beunruhigt (Abaelard, Hist. Cal.)
predicti emuli nostri ita me in clero et populo diffamaverunt - unsere genannten Rivalen haben mich bei Klerus und Volk angeschwärzt (Abaelard, Hist. Cal.)
nisi magisterialis institucionis tui sollercia - nur durch das Geschick Deines meisterhaften Unterrichts (M 76)
tali ditata patrono - einem solchem Schutzhernn diktiert (M 66)
tuum admiror ingenium, que tam subtiliter de amicicie legibus argumentaris, ut non Tullium legisse, sed ipsi Tullio precepta dedisse videaris - ich bewundere Deinen Geist, der Du so scharfsinnig über die Gesetze der Freundschaft urteilst, so dass Du anscheinend Tullius Cicero nicht nur gelesen, sondern ihm sogar Lehren erteilt hast (V 50)
soli inter omnes etatis nostre puellas philosophie discipule - der alleinigen Schülerin der Philosophie unter allen Mädchen unserer Zeit (V 59)
gemma tocius Gallie - Edelstein ganz Galliens (V 89)
in hoc eciam me excedis, ubi ego videbar excedere - Du übertriffst mich sogar darin, worin ich Dich zu übertreffen schien (V 50)
pelagus - Meer (M 23), balsamum - Balsam (M 45), polus - Himmel (M 49), scandalum - Skandal (M 62), organum - Musikinstrument (M 66), cilicium - Decke (M 69), plasma - Melodie (M 73), pyra -Scheiterhaufen (M 82), calips -Stahl (M 83), heremus - Einsiedler (M 94), sophia -Weisheit (M 109)
apertis itaque libris, plura de amore quam de lectione verba se ingerebant - über den offenen Büchern ließen wir mehr Worte über die Liebe als über die Lesung fallen (Abaelard, Hist. Cal.)
eam litterarum scientiam et habere et diligere noveram - ich wußte, dass sie wissenschaftliche Kenntnisse hatte und schätzte (Abaelard, Hist. Cal.)
que cum per faciem non esset infima, per habundantiam litterarum erat suprema, nam quo bonum hoc litteratorie scilicet scientie in mulieribus est rarius, eo amplius puellam commendabat et in toto regno nominatissimam fecerat - war sie schon vom Antlitz her nicht die Schlechteste, so war sie Spitze in der Fülle der Wissenschaft; denn je seltener dieses Gut der wissenschaftlichen Kenntnis bei Frauen ist, desto mehr empfahl es dieses Mädchen und hatte es schon im ganzen Königreich sehr bekannt gemacht (Abaelard, Hist. Cal.)
tu illo efferendo studio tuo et mulieres omnes evicisti et pene viros universos superasti - Du hast durch jenes lobenswerte Bestreben sowohl alle Frauen übertroffen als auch nahezu die gesamten Männer hinter Dir gelassen (Petrus Venerabilis, Brief an Heloïsa)
et matrem harum peritam trium linguarum habetis - ihr habt doch eine Mutter, die drei Sprachen beherrscht (Abaelard, Brief IX)
quondam uxorem suam, litteris Latinis et Hebraicis eruditam, eis abbatissam prefecit (Chronik von Tours)
problemata Heloissae - die Problemfälle Heloïsas (Titel eines der Werke Heloïsas)
donec pareret masculum quem Astralabium nominavit - bis sie ein Knäblein gebar, welches sie Astralabius nannte (Abaelard, Hist. Cal.)
tibi rependere et in omnibus obedire - Dir zu vergelten und in allem zu gehorchen (M 25)
sub alas tuas confugio, tue dicioni me suppono obnixe tibi per omnia subsequendo - ich flüchte unter Deine Fittiche, ich unterstelle mich Deinem Befehl und folge Dir in allem willfährig nach (M 29)
has inornatas litteras tibi mitto earum probans indicio, quam devote in omnibus me tuis preceptis subicio - diesen schmucklosen Brief schicke ich Dir als Beweis, wie unterwürfig ich mich all Deinen Anordnungen füge (M 71)
facundia tua ultra etatem et sexum tuum iam virile in robur se incipit extendere - Deine Sprachgewandtheit beginnt, sich über Dein Alter und Dein Geschlecht hinaus in männliche Kraft auszudehnen (V 50)
quia tu ita, dulcissima domina mea, precepisti - weil Du, meine süßeste Herrin, es so befohlen hast (V 6)
reverende domine sue humilis servus eius - seiner verehrungswürdigen Herrin, ihr demütiger Diener (V 36)
ad nutus domine me cohibebo mee - auf einen Wink meiner Herrin werde ich mich zügeln (V 87)
omnes mihi denique voluptates interdixi ut tue parerem voluntati - ich habe mir schließlich alle Vergnügen untersagt, um Deinem Willen zu gehorchen (Heloïsa, Brief II)
miror..., quod...in ipsa fronte salutationis epistolaris me tibi praeponere praesumpsisti, feminam videlicet viro,... ancillam domino - ich wundere mich, dass Du gerade in Deinem Briefkopf mich Dir voranstellen wolltest, die Frau dem Manne... die Magd dem Herrn (Heloïsa, Brief IV)
sequi pro iussu tuo minime dubitarem - ich zögerte nicht im Geringsten, Deinem Befehl zu folgen (Heloïsa, Brief II)
tantam autem gratiam in oculis omnium illi sorori nostre, que ceteris preerat, Dominus annuit, ut eam episcopi quasi filiam, abbates quasi sororem, laici quasi matrem diligerent; et omnes pariter eius religionem, prudentiam, et in omnibus incomparabilem patiencie mansuetudinem admirabantur - eine so große Gnade in den Augen aller hat der Herr unserer Schwester vor allen anderen zukommen lassen, dass die Bischöfe sie wie eine Tochter, die Äbte wie eine Schwester, die Laien wie eine Mutter liebten; und alle bewunderten gleichermaßen ihre Frömmigkeit, Klugheit und unvergleichliche Sanftheit und Geduld (Abaelard, Hist. Cal.)
femineum enim sexum vos excessisse nobis notificavit... muliebrem mollitiem exuperasti et in virile robur indurasti - hat uns bekannt gemacht, dass Ihr Euer weibliches Geschlecht übertroffen habt... Ihr habt die Weichlichkeit der Frauen überwunden und seid hart wie ein Mann geworden (Hugo Metellus, Brief an Heloïsa)
et mulieres omnes evicisti et pene viros universos superasti - Du hast alle Frauen besiegt und nahezu alle Männer übertroffen (Petrus Venerabilis, Brief an Heloïsa)
iam philosophiae laribus nutritus poeticum fontem ebibisti - schon von den Laren der Philosophie gespeist, hast Du auch noch von der Quelle der Dichtkunst getrunken (M 112)
duo autem, fateor, tibi specialiter inerant quibus feminarum quarumlibet animos statim allicere poteras, dictandi videlicet et cantandi gratia - zwei besondere Fähigkeiten wohnten Dir auf besondere Weise inne, so gestehe ich, mit denen Du die Herzen beliebiger Frauen gewinnen konntest, die Gnade der Schreibkunst und des Gesangs (Heloïsa, Brief II)
pleraque amatorio metro vel rithmo composita reliquisti carmina, que pre nimia suavitate tam dictaminis quam cantus sepius frequentata tuum in ore omnium nomen incessanter tenebant - Du hast sehr viele Liebesgedichte in Reim oder Metrik hinterlassen, die Deinen Namen wegen allzu großer Süße im Dichten und im Gesang... in aller Munde unablässig hielten (Heloïsa, Brief II)
en lux adventat, nox et discedere temptat - der Tag bricht an, die Nacht versucht zu schwinden (M 66)
ave, lux - sei gegrüßt, Licht (M 73)
dies ista feliciter orta sit tibi, feliciter currat tibi, feliciter occidat tibi - dieser Tag sei Dir glücklich angebrochen, er verlaufe Dir glücklich, er gehe Dir glücklich zu Ende (M 83)
noctem candidam, et utinam mecum - eine sternenhelle Nacht, oh wenn Du doch bei mir wärst (V 15)
cum dies in noctem vergeret, ulterius me continere non potui, quin salutandi officium ultro arriperem - als der Tag verging und die Nacht hereinbrach, habe ich mich nicht mehr zurückhalten können, freiwillig die Pflicht zu übernehmen, Dich zu grüßen (V 17)
o noctem infaustam, o dormitationem odiosam - oh unglückselige Nacht, oh verhasster Schlaf (V 47)
lucida nox tua sit, preter me nil tibi desit - leuchtend sei Deine Nacht, nichts soll Dir fehlen außer mir (V 111)
tediosum mihi vehementer erat ad scolas procedere vel in eis morari; pariter et laboriosum, cum nocturnas amori vigilias et diurnas studio conservarem - ich war es Leid, in die Schulen zu gehen oder mich dort aufzuhalten; ebenso war es anstrengend, die Nachtstunden für die Liebe und die Tagstunden für das Studium zu reservieren (Abaelard, Hist. Cal.)
cum lacrimis tuis scripta recepi, cum lacrimis mea scripta remitto - mit Tränen habe ich Deinen Brief empfangen, mit Tränen schicke ich Dir meinen zurück (V 61)
non possum lacrimas tenere meas... suscipe, nam lacrimis precor hoc, carissima - ich kann nicht meine Tränen zurückhalten... nimm mich auf , Teuerste, darum bitte ich Dich unter Tränen (V 87)
cui potus lacrime te discedente fuere - dem die Tränen bei Deinem Scheiden Trank gewesen sind (V 108)
legi inter suspiria, singultus et lacrimas, prout potui - ich habe dies unter Seufzern, Schluchzen und Tränen gelesen, soweit ich es vermochte (Abaelard, Hist. Cal.)
V. definiert amor häufiger als M. als körperliche Leidenschaft und unerfüllte Sehnsucht. Ungeduldig ersehnt er die Geliebte. Auffallend oft beteuert V. seine Treue M. gegenüber. Diese hat dagegen öfters Anlass, an seiner Treue zu zweifeln. Offensichtlich hatte V. mehr als M. Gelegenheit zu einem Treuebruch. Ob dies als Zeichen eines schlechten Gewissens oder als Ausdruck wahrer Liebe gewertet werden muss, ist letztlich nicht zu entscheiden. In den Briefen von M. und V. finden sich nur vereinzelt Anspielungen auf eine ersehnte oder vollzogene körperliche Beziehung. Dass M. und V. auch ohne spezielle Beschreibung einer körperlichen Liebe kein rein platonisches Liebesverhältnis im Sinne des amor spiritualis pflegen (wie Dronke vermutete), erkennt man z. B. an ihrer Angst vor einem Skandal.
letissimis amplexibus eandem gemmam circumdare - mit freudigsten Umarmungen gerade diesen Edelstein umgeben (V 10)
ardenter amate et ardentius amande pre omnibus fidelis et, ut verius dicam, solus fidelis - der brennend Geliebten und umso brennender zu Liebenden, der vor allen Treue und, um es wahrhaftiger zu sagen, einzige Treue (V 12)
noctem candidam et utinam mecum - eine sternenhelle Nacht, oh wärst Du doch bei mir (V 15)
invidum amori nostro tempus imminet, et tu tamen ita differs, quasi ociosi simus - die missgünstige Zeit droht unserer Liebe, und dennoch verhältst Du Dich so anders, als wenn wir viel Zeit hätten (V 22)
o quam fecundum suavitatis pectus tuum, o quam integra venustate prefulges, o corpus succi plenissimum, o ineffabilis odor tuus, profer, quod latet, revela, quod habes absconditum - oh wie der Süße voll ist Deine Brust, oh wie strahlst Du in reiner Schönheit, oh Du Körper voller Saft, oh wie unaussprechlich ist Dein Duft, zeige, was verborgen ist, enthülle, was Du versteckt hältst (V 26)
illico certe in lectum pre impaciencia me conieci - sofort habe ich mich voller Ungeduld ins Bett geworfen (V 37)
opto, ut ego illi bono incorporari merear, quod cum tanta desidero impatiencia, quanta vix dici vel credi potest - ich wünsche, verdient jenem Gut einverleibt zu werden, welches ich mit so großer, unaussprechlicher oder unglaublicher Ungeduld ersehne (V 46)
corpus sic tenerum nichil ultra ledat amarum - nichts Bitteres verletze den so zarten Körper (V 87)
nescio, quod meum peccatum tam magnum precesserit - ich weiß nicht, welche so große Schuld meinerseits vorangegangen ist (V 61)
fidelissimus eius - ihr Allertreuester (V 15, 54)
sis certa de fide tui fidelis - sei Dir der Treue Deines Getreuen sicher (V 64)
hucusque fideliter adamato, postmodum vinculo egri amoris non diligendo - dem bislang treu Geliebten, der ab sofort nicht mehr mit der Fessel kranker Liebe geliebt werden darf (M 60)
lilium eius, fidei augmentum - seine Lilie, ein Zuwachs an Treue (M 90)
navi periclitanti et anchoram fidei non habenti illa, quam non movent ventosa, que tue infidelitati sunt congrua - dem schlingernden Schiff, das den Anker der Treue nicht hat, jene, welche die Stürme nicht bewegen, die Deiner Untreue entsprechen (M 95)
qualia sunt, que veste tegis, vix mente quiesco, que palpasse volo, cum subeunt animo - welche Dinge sind es, Die Du mit dem Kleid bedeckst; kaum komme ich zur inneren Ruhe, wenn sie mir in den Sinn kommen, die ich streicheln will (V 113)
famam, que de nobis orta est, paulatim attenuemus - um das Gerücht, das um uns entstanden ist, etwas abzuschwächen (V 101)
sic inter nos res agatur, ne et tu periculum et ego scandalum incurram - hoffentlich geschieht es uns so, dass Du nicht in Gefahr und ich nicht in einen Skandal gerate (M 62
obstant et populi murmura, que timeo - es bedroht uns auch das Raunen im Volke, das ich fürchte (V 113)
Abaelard schilderte sein Verhältnis mit Heloïsa als Folge der Leidenschaft, als sexuelle Begierde. In seinen Schilderungen finden sich sogar Andeutungen von sexueller Perversion und Gewalt. Den Angaben Heloïsas zufolge soll Abaelard der Schwarm aller Frauen gewesen sein. Ein Bekannter schilderte ihn als Frauenhelden. Abaelard selbst jedoch sprach von seiner Enthaltsamkeit gegenüber anderen Frauen. Heloïsa und Abaelard pflegten häufigen sexuellen Verkehr, auch noch nach ihrer Trennung, als Heloïsa in Argenteuil weilte.
in huius itaque adolescentule amorem totus inflammatus, occasionem quesivi - in Liebe zu diesem sehr jungen Mädchen ganz entbrannt, habe ich eine Gelegenheit gesucht (Abaelard, Hist. Cal.)
plura erant oscula quam sententie, sepius ad sinus quam ad libros reducebantur manus - es gab mehr Küsse als Lehrsätze, öfters griff die Hand zum Busen als zu den Büchern (Abaelard, Hist. Cal.)
verbera quandoque dabat amor, non furor - es gab auch Schläge, nicht aus Wut, sondern aus Liebe (Abaelard, Hist. Cal.)
concupiscentia te mihi potius quam amicitia sociavit, libidinis ardor potius quam amor - die Lüsternheit hat Dich eher mit mir als die Freundschaft verbunden, die brennende Begierde mehr als die Liebe (Heloïsa, Brief II)
dum tecum carnali fruerer voluptate - solange ich mit Dir Fleischeslust genoss (Heloïsa, Brief II)
nullus a cupidis intermissus est gradus amoris, et si quid insolitum amor excogitare potuit, est additum - wir haben keine Stufe der Liebe ausgelassen, und wenn die Liebe eine neue Variante hat ausdenken können, so haben wir sie hinzugefügt (Abaelard, Hist. Cal.)
cum nocturnas amori vigilias et diurnas studio conservarem - da ich die Nachtstunden für die Liebe und die Tagstunden für das Studium bewahrte (Abaelard, Hist. Cal.)
tanti quippe tunc nominis eram et iuventutis et forme gratia preminebam, ut quamcunque feminarum nostro dignarer amore nullam vererer repulsam - ich hatte damals schon einen so großen Namen und ragte durch die Gnade der Jugend und Schönheit hervor, dass ich keine Zurückweisung befürchtete, welche auch immer von den Frauen ich meiner Liebe für würdig befand (Abaelard, Hist. Cal.)
multarum in me feminarum accendit invidiam - die Frauen wurden sehr neidisch auf mich (Heloïsa, Brief II)
nam illud, quod sic te, ut aiunt, praecipitem dedit, singularum scilicet feminarum amorem, et laqueos libidinis earum, quibus suos capiunt scortatores, melius mihi videor praeterire - denn es scheint mir besser, jenes zu übergehen, welches - wie man sagt - Dich hat abstürzen lassen, freilich die Liebe zu einzelnen Frauen und die Fallstricke ihrer Begierde, mit denen sie ihre Beischläfer fangen (Fulko von Deuil, Brief an Abaelard)
quia igitur scortorum immunditiam semper abhorrebam et ab accessu et frequentatione nobilium feminarum studii scolaris assiduitate revocabar - weil ich also die Unreinheit der Huren immer verabscheute und vom Verkehr und dem Besuch adeliger Frauen durch mein fleißiges Studium abgehalten wurde (Abaelard, Hist. Cal.)
puella se concepisse comperit - da erfährt das Mädchen, dass sie schwanger ist (Abaelard, Hist. Cal.)
nosti post nostri confoederationem conjugii, cum Argenteoli cum sanctimonialibus in claustro conversabans, me die quadam privatim ad te visitandam venisse, et quid ibi tecum meae libidinis egerit intemperantia in quadam etiam parte ipsius refectorii - Du weißt, dass nach unserem Ehebündnis, als Du in Argenteuil mit den Nonnen Dich im Kloster aufhieltest, ich zu Dir eines Tages privat zu Besuch gekommen bin, und was ich dort mit Dir in maßloser Geilheit in einem Winkel des Refektoriums getrieben habe (Abaelard, Brief V)
sic omnibus est amor meus insanabilis, tibi autem soli est medicabilis - so kann keiner meine Liebe heilen, außer Du allein (M 21)
cum sublimi et precipua dilectione te diligo - mit zarter und ausnehmender Hochschätzung liebe ich Dich (M 53)
tamen stabilitum vadimonium dilectionis et fidei - trotzdem den gefestigten Pfad der Liebe und Treue (M 60)
quem tenaci dilectionis anchora in corde meo sigillavi - ich habe Dich mit dem festen Anker der Liebe in meinem Herzen versiegelt (M 69)
si, quicquid Cesar unquam possedit, haberem, prodessent tante nil michi divitie - wenn ich all den Reichtum hätte, den Caesar je besaß, so würde er mir dennoch nichts nützen (M 82)
solus quippe es qui me contristare, qui me letificare seu consolari valeas, et solus es qui plurimum id mihi debeas - weil Du allein es bist, der mich traurig machen, erfreuen oder trösten kann, und Du allein es bist, der mir das am meisten schuldet (Heloïsa, Brief II)
et quod maius est dictuque mirabile, in tantam versus est amor insaniam ut quod solum appetebat, hoc ipse sibi sine spe recuperationis auferret, cum ad tuam statim iussionem tam habitum ipsa quam animum immutarem, ut te tam corporis mei quam animi unicum possessorem ostenderem - und was größer ist und bemerkenswerter, die Liebe ist in so großen Wahnsinn umgeschlagen, dass sie das, was sie allein erstrebte, ohne irgendeine Hoffnung auf Wiedererlangung beseitigte; denn ich wechselte sofort auf Deinen Befehl hin sowohl mein Aussehen als auch meine Seele, um zu zeigen, dass Du ebenso der einzige Besitzer meines Körpers wie meiner Seele bist (Heloïsa, Brief II)
non enim mecum animus meus, sed tecum erat; sed et nunc maxime, si tecum non est, nusquam est: esse vero sine te nequaquam potest - mein Herz war nämlich nicht bei mir, sondern bei Dir; und jetzt ist es erst recht nirgends, wenn es nicht bei Dir ist: aber ohne Dich kann es in keiner Weise bestehen (Heloïsa, Brief II)
deum testem invoco, si me Augustus universo presidens mundo matrimonii honore dignaretur, totumque mihi orbem confirmaret in perpetuo possidendum, carius mihi et dignius videretur tua dici meretrix quam illius imperatrix - ich rufe Gott als Zeugen an, wenn mich Augustus, der Herrscher der ganzen Welt, der Ehre einer Ehe für würdig hielte, und er mir den Besitz der ganzen Erde für immer bestätigte, so erschiene es mir lieber und würdiger, Deine Dirne als seine Kaiserin genannt zu werden (Heloïsa, Brief II)
sola consolacio mea - Du mein alleiniger Trost (V 4)
in te spes mea, in te requies mea - in Dir liegt meine Hoffnung, meine Ruhe (V 6)
anima mea, quies mea - meine Seele, meine Ruhe (V 15)
mea in angustiis recreacio - meine Erquickung in der Not (V 28)
de terrenis bonis omnibus sola tua venustas me reficeret et omnium dolorum oblivisci faceret - von allen irdischen Gütern erfrischte mich allein Deine Schönheit und ließe mich alle Schmerzen vergessen (V 50)
et sic me, ut potuit, flentem flens et ipse consolatus est - und so hat er mich, soweit er konnte, beim Weinen selbst weinend getröstet (Abaelard, Hist. Cal.)
iam desperatus divine gratia consolationis - schon war ich an der Gnade der göttlichen Tröstung verzweifelt (Abaelard, Hist. Cal.)
Paraclitus, id est consolator... et Deus totius consolationis, qui consolatur nos in omni tribulatione nostra - Paraklet, das heißt Tröster... und der Gott des ganzen Trostes, der uns in der ganzen Trübsal tröstet (Abaelard, Hist. Cal.)
in memoria scilicet nostre consolationis - freilich in Erinnerung an unseren Trost (Abaelard, Hist. Cal.)
atque ibi quiete... inter inimicos Christi christiane vivere - um dort in aller Ruhe... unter den Feinden Christi christlich zu leben (Abaelard, Hist. Cal.)
ubi quiescere possim - wo ich ausruhen könne (Abaelard, Hist. Cal.)
nec me amplius in aliquo inquietaturos - damit sie mich nicht weiter in irgendeiner Weise beunruhigen könnten (Abaelard, Hist. Cal.)
dolorum solatium, laborum remedium, mea mihi cithara - Trost meiner Schmerzen und Heilmittel meiner Mühen ist mir meine Laute (Abaelard, Hymnus Dolorum Solatium)
ad alios verba, ad te intencionem dirigo - an andere richte ich Worte, auf Dich mein Ansinnen (V 22)
ego in eadem circa te intencione tenaciter perseverabo - ich werde immer hartnäckig an derselben Absicht Dir gegenüber festhalten (V 22)
duabus diversis voluntatibus unum quid indifferenter efficiatur - damit aus zwei verschiedenen Willen eine Einheit in unterschiedsloser Weise gebildet werde (V 24)
si voluntatem meam, amantissime, consequeretur effectus - wenn meinem Willen, Geliebteste, die Ausführung folgte (M 45)
decrevit hoc mea intencio - dies hat meine Absicht beschlossen (M 76)
si grande aliquid meditando concipit hominis interioris intencio - wenn durch Bedenken einer großen Sache die innere Absicht des Menschen etwas begreift (M 79)
immo nil difficile, quod ex voluntate - ganz im Gegenteil, nichts ist schwer, was dem Willen entspringt (M 88)
semper dulciter vivere summa opto cordis intencione - mit dem höchsten Bestreben des Herzens wünsche ich, immer angenehm zu leben (V 102)
qui nunquam labascit ab intencione mentis - der niemals von der inneren Absicht abweicht (V 104)
ut secundum intentionum diversitatem adversitatis quaeramus remedium - damit wir nach der Unterschiedlichkeit unserer Absichten ein Mittel zur Beseitigung des Gegensatzes suchen (Abaelard, Sic et Non)
cum apud dominum omnia discuti iuxta intentionem constet - da beim Herrn bekanntlich alles nach der Absicht unterschieden wird (Abaelard, Sic et Non)
mendacium quippe... spiritualis doctor non nisi peccatum accipit, quod magis iuxta intentionem loquentis quam secundum qualitatem locutionis - eine Lüge nimmt der geistliche Lehrer nur als Sünde an, wenn sie mehr der Absicht des Sprechenden, als der Art des Gesprächs entspricht (Abaelard, Sic et Non)
a bonis tamen intentione atque conscientia, quam Deus cernit - von den Guten dennoch durch die Absicht und das Gewissen, welches Gott sieht (Abaelard, Sic et Non)
nescio, quod meum peccatum tam magnum precesserit... ut vel ego nimis in te peccaverim - ich weiß nicht, was meiner so großen Sünde vorangegangen ist... oder dass ich allzusehr gegen Dich gesündigt habe (V 61)
quanta sum erubescentia confusus - oh welch große Schamesröte hat mich übergossen (Abaelard, Hist. Cal.)
amor meus, qui utrumque nostrum peccatis involvebat, concupiscentia, non amor dicendus est - meine Liebe, die uns beide in Sünde verwickelt hat, muss Begehrlichkeit, nicht Liebe genannt werden (Abaelard, Brief V)
Auch Heloïsa oder Abaelard hielten eine Ehe nicht für das Ziel ihrer Beziehung; für Abaelard war sie nur eine Notlösung, um seinen Beruf und seine Reputation zu erhalten - für Heloïsa nicht einmal das!
non matrimonii federa, non dotes aliquas expectavi, non denique meas voluptates aut voluntates, sed tuas, sicut ipse nosti, adimplere studui. Et si uxoris nomen sanctius ac validius videretur, dulcius mihi semper extitit amice vocabulum aut, si non indigneris, concubine vel scorti - nicht ein Ehebündnis, nicht irgendeine Mitgift habe ich erwartet und, wie Du selbst weißt, habe ich schlussendlich nicht mein Vergnügen und meinen Willen, sondern den Deinen erfüllen wollen. Auch wenn der Name Gattin heiliger und wertvoller erschien, so kam mir immer das Wort Freundin süßer vor, oder - sei bitte nicht empört - Konkubine oder Hure (Heloïsa Brief II)
Von den bildhaften Ausdrücken sei hier nur ein kleine Auswahl angeführt:
clarissima stella mea - mein hellster Stern (M 4)
clarissime stelle sue - seinem hellsten Stern (V 6)
stella polum variat et noctem luna colorat, sed michi sydus hebet, quod me conducere debet - der Stern wechselt den Himmel und die Nacht färbt der Mond, doch mir verblasst das Gestirn, das mich leiten soll (V 20)
crede quidem tibi solem oriri meridianum - glaube doch, dass Dir die Mittagssonne aufgeht (M 32)
luna presenti multo lucidior et sole cras orituro gratior - viel leuchtender als der gegenwärtige Mond und angenehmer als der morgige Sonnenaufgang (V 33)
lune fulgorem, solis candorem, stellarum splendorem - das Leuchten des Mondes, das Gleißen der Sonne, der Glanz der Sterne (M 45)
mi stella clara, sydus aureum - mein heller Stern, mein goldenes Gestirn (M 76)
lune splendidissime omnes tenebras fuganti, lune, inquam, cuius splendor non deficit - seinem strahlendsten Mond, der alle Finsternis vertreibt, dem Mond - sage ich - dessen Glanz nicht vergeht (V 91)
sidereo oculo suo - seinem Augenstern (V 101)
gratius astra nitent, sol clarior exerit orbem - angenehmer glänzen die Sterne, heller zeigt die Sonne ihre Scheibe (V 108)
instabilis lunae stultus mutatur ad instar, sicut sol sapiens permanet ipse sibi - wie der Dumme sich genauso ändert wie der zu- und abnehmende Mond, so bleibt der Weise wie die Sonne immer sich selbst der Gleiche (Abaelard, Monita ad Astralabium)
matutina sunt illa sidera - Morgensterne sind jene (Abaelard, Hymnus In Ortum Mundi)
qui scandens super sidera - der über die Sterne aufsteigt (Abaelard, Hymnus Ascensio)
ortus, occasus, plage poli, administrate lucida sidera sufflagitate Oriona - Aufgang und Untergang, Himmelsfläche, verwaltet die leuchtenden Sterne des... Orions (Abaelard, Planctus Cigne)
Abaelard hatte sich in seiner Jugend wohl kaum mit religiösen Texten beschäftigt. Er bestätigte in seiner Autobiographie, dass er sich erst relativ spät, nach seiner Rückkehr aus Laon, der Theologie zuwandte.
me non minorem gratiam in sacra lectione adeptum iam crederent quam in philosophica viderant - und schon glaubten sie, ich hätte in der Lesung der Heiligen Schrift keine geringere Gnade erfahren, als sie in der Lesung der Philosophie gesehen hatten (Abaelard, Hist. Cal.)
viventium carissimo et super vitam diligendo intime devocionis amica queque optima ex toto corde et anima - dem Liebsten aller Lebenden, der mehr als das Leben geliebt werden muss, die Freundin voll innerer Hingabe: alles Beste aus ganzem Herzen und ganzer Seele (M 55)
hactenus mecum mansisti, mecum viriliter bonum certamen certasti, sed nondum bravium accepisti - bislang bist Du bei mir geblieben, hast mit mir mannhaft einen guten Streit gefochten, aber noch immer nicht hast Du den Siegespreis empfangen (M 84)
huius quippe loci tu post Deum solus es fundator, solus huius oratorii constructor, solus huius congregationis edificator - Du bist nach Gott allein der Begründer dieses Ortes, Du allein der Erbauer dieses Oratoriums, Du allein hast diesen Konvent errichtet (Heloïsa, Brief II)
superabilis - überwindbar (M 21)
insanabilis - unheilbar (M 21)
ineffabilis - unaussprechlich (V 26)
innumerabilis - unzählbar (V 22)
execrabilis - verwünschenswert (V 47)
immarcessibilis - unermüdlich (M 49)
incomparabiliter - in unvergleichlicher Weise (V 12)
guttula scibilitatis - ein Tröpfchen der Wissensfähigkeit (M 53)
Abaelard und Heloïsa machten ebenfalls Gebrauch von Verbaladjektiven mit -bilis. Im folgenden nur einige Beispiele: Worte mit -bilis finden sich in der Historia Calamitatum 22 Mal, in Abaelards Brief III 2 mal, in Abaelards Brief V 15 mal, in Heloïsas Brief II 9 mal, in Heloïsas Brief IV 6 mal. Auch in anderen Schriften, z.B. der Dialectica, finden sich derartige Neuschöpfungen. Besonders häufig sind Verbaladjektive mit der Endung -bilis in der Schrift De Intellectibus anzutreffen, insgesamt 23 mal. Heloïsas Neigung zu Neologismen wird von Hugo Metellus in einem Schreiben bestätigt. Der Begriff scibilis und scibilitas, der in anderen zeitgenössischen Quellen nicht nachweisbar ist, spielt eine besondere Rolle in Abaelards Dialectica und in der Logica Ingredientibus, wo er jeweils interpretiert wird. Nach zeitgenössischen Quellen ( z.B. Chronik von Tours) soll an Abaelards Grab ein Epitaph angebracht gewesen sein, welches wahrscheinlich aus der Feder Heloïsas stammte und den Begriff scibilis enthielt.
lamentabile - beklagenswert (Abaelard, Hist. Cal.)
miserabilem - erbärmlich (Heloïsa, Brief II)
execrabilem - verwünschenswert (Heloïsa, Brief II)
sensibilem - spürbar (Abaelard, De Intellectibus)
risibile - lächerlich (Abaelard, De Intellectibus)
indivisibilis - unteilbar (Abaelard, De Intellectibus)
sicut enim dicitur scibile scientia scibile, ita etiam videtur bene dici scibile scibilitate scibile - so wie nämlich Wissenswertes wissenswert aufgrund des Wissens genannt wird, so scheint auch Wissenswertes wissenswert aufgrund der Wissensfähigkeit wohl genannt zu werden (Abaelard, Dialectica)
dictando, versificando, nova junctura, nota verba novando - durch Formulieren, durch Reimen, durch Erfindung von neuen Verknüpfungen und neuen Verben (Hugo Metellus, Brief an Heloïsa)
est satis in tumulo, Petrus hic jacet Abaelardus, cui soli patuit scibile quidquid erat - genug ist in diesem Grab: Hier liegt Petrus Abaelardus, dem allein offen stand, was auch immer zu wissen war (Chronik von Tours)
ut de duabus diversis voluntatibus unum quid indifferenter efficiatur... quia licet res universalis sit amor - damit aus zwei unterschiedlichen Absichten eine Einheit in unterschiedloser Weise bewirkt werde... weil freilich Liebe eine Universalie ist (V 24)
quicquid boni singulariter amantibus servatum est - was auch immer Gutes einzeln den Liebenden bewahrt ist (V 56)
racionalis et ordinata composicio - eine vernünftige und geordnete Zusammenstellung (V 63)
vox illa cassa fuerit nichil significans - jenes ist ein bedeutungsloses Wort gewesen, das nichts bezeichnete (V 74)
si in eodem corpore ulla potest esse alteritas vel divisio, tunc divise a se optime parti sui corporis, indivisam dilectionem - wenn in ein und demselben eine Unterschiedlichkeit oder Teilung sein kann, dann dem besten Teil seines Körpers, der von ihm getrennt ist: ungeteilte Liebe (V 85)
dilecto suo speciali - ihrem besonders Geliebten (M 21)
ita, quod omnibus est generale, quibusdam efficitur speciale - so wird das, was allen allgemein ist, für manche zum Besonderen (M 25)
sis michi pre cunctis specialis dilectus - Du mögest mir vor allem ein besonderer Geliebter sein (M 76)
merito specialis dilectionis amplectendo amore - dem, der verdientermaßen mit der Liebe einer besonderen Hochschätzung zu umfangen ist (M 79)
singulari gaudio - seiner einzigartigen Freude (V 2)
singularis eius - seine Einzigartige (V 4)
fide singularis amici tui - in der Treue Deines einzigartigen Freundes (V 54)
Auch Heloïsa verwandte in Brief II zweimal den Begriff specialis, in der Anrede von Brief VI specialiter und singulariter zugleich. Abaelard gebraucht des öfteren den Begriff singularis; so zum Beispiel in der Historia Calamitatum 4 Mal, in Brief III an Heloïsa einmal. Einmalig verwendet Abaelard in seiner Autobiographie den Begriff indifferenter als wesentlichen Begriff seiner Kontroverse mit Wilhelm von Champeaux. Abaelard definierte die Identität zweier Individuen (genus oder species) an ihrer Unterschiedslosigkeit (indifferentia), nicht an der gemeinsamen Wesenheit (essentia). Der Begriff indifferentia stammt jedoch nicht von Abaelard, er wurde bereits von Boethius geprägt. In der Schrift De Intellectibus verwendete Abaelard diesen Begriff häufiger, insgesamt 5 mal! In den Sententie Secundum Magistri Petri wird er erklärt. Die anderen Termini, z.B. vox und significare verwendete Abaelard häufig in seinen philosophischen Schriften wie Dialectica und De Intellectibus. Der Begriff cassus taucht allein in der Schrift De Intellectibus 9 mal auf. Auch Heloïsa verwendete dieses Wort in Brief II.
suo specialiter, sua singulariter - dem Ihren auf besondere Weise, die Seine auf einzigartige Weise (Heloïsa, Brief VI)
non tam specialis quam communis, non tam privata quam publica - nicht so besonders wie gemeinsam, nicht so privat wie öffentlich (Heloïsa, Brief II)
ut eam singulari preconio extollerent - um diese in einzigartigem Lobpreis herauszuheben (Abaelard, Hist. Cal.)
hec singularis infamia - diese einzigartige Ruchlosigkeit (Abaelard, Hist. Cal.)
quo singulariter gloriaretur - wodurch er einzigartig gerühmt wurde (Abaelard, Hist. Cal.)
sic autem istam tunc suam correxit sententiam, ut deinceps rem eamdem non essentialiter sed indifferenter diceret - so aber, dass er diesen seinen Lehrsatz verbesserte und von nun an ein und dieselbe Sache nicht nach der Wesenheit, sondern nach der Unterschiedslosigkeit benannte (Abaelard, Hist. Cal.)
ita indifferenter considero - so betrachte ich in unterschiedsloser Weise (Abaelard, De Intellectibus)
hoc est indifferenter absque ulla scilicet personali discretione - das heißt, in unterschiedsloser Weise, freilich ohne jegliche personelle Unterscheidung (Abaelard, De Intellectibus)
definiri necessarium iudico utrum omnis intellectus, aliter quam res sese habeat attendens, cassus ac vanus dicendus sit - es ist notwendig, durch ein Urteil festzulegen, ob jede Einsicht, die eine Realität anders bemerkt als sie sich verhält, gegenstandslos oder inhaltsleer genannt werden darf (Abaelard, De Intellectibus)
at vero intellectus esse non potest... etiam si sit intelligentia cassa - doch in der Tat kann keine Einsicht vorliegen... auch wenn die Einsichtsfähigkeit gegenstandslos ist (Abaelard, De Intellectibus)
admonitionibus sepe cassis - nachdem Ermahnungen häufig nichtig geblieben sind (Heloïsa, Brief II)
dum studiosa mei laboris tempora in te funditus perpendam neglecta - wenn ich die eifrigen Zeiten meiner Arbeit, gegen die Dir zuliebe vernachlässigten aufrechne (M 71)
si aliquis perpenditur defectus - wenn irgendein Mangel aufgewogen wird (M 85)
facile ergo perpendere potes - Du kannst also leicht abwägen (M 110)
perpende, obsecro, que debes - ziehe in Erwägung, ich beschwöre Dich, was Du mir schuldest (Heloïsa, Brief II)
Dass aus den aufgeführten Parallelen trotz ihrer Zahl und Bedeutung keine voreiligen Schlüsse gezogen werden dürfen, soll an einigen Beispielen demonstriert werden:
Abaelard wirkte zu Beginn des 12. Jahrhunderts in den wissenschaftlichen Schulen des aufstrebenden Paris. Er war keineswegs der einzige namhafte Lehrer. In seinen Schriften weist er immer wieder auf einen hohen Konkurrenzdruck hin:
qui inter conscolares nostros - derjenige unter unseren Schulteilnehmern (Abaelard, Hist. Cal.)
ipse qui in scolis Parisiace sedis magistro successerat nostro locum mihi suum offerret - selbst der, der in den Schulen von Paris dem Schulleiter nachgefolgt war, bot mir jetzt seinen Posten an (Abaelard, Hist. Cal.)
clerici sive scolares huc certatim ad disciplinam tuam confluentes - die Kleriker und Studenten strömten eifrig hierher zu Deinem Unterricht (Heloïsa, Brief II)
Der Lehrbetrieb lief allerdings damals ganz anders als heute ab. Alle Lehrer und Lehren hatten eine große Öffentlichkeitswirkung. Viele der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen wurden auf der Straße oder auf öffentlichen Plätzen ausgetragen:
inter cetera disputationum nostrarum conamina - unter allen anderen Anstrengungen unserer Disputationen (Abaelard, Hist. Cal.)
Vor diesem Hintergrund sind die allermeisten der oben angeführten Parallelen zwar als vereinbar mit der Situation Abaelards, keineswegs jedoch als spezifisch für ihn anzusehen.
Interessanter ist da eine Beurteilung der Situation Heloïsas. Sie ist ja durch viele, von einander unabhängige Quellen als herausragendes Talent beschrieben worden (siehe oben). Die Tatsache, dass sie in einer Klosterschule eine dreisprachige literarische Ausbildung erhalten hatte, erscheint zunächst ungewöhnlich. Auch hierzu äußerte sich Abaelard persönlich.
Zusammenfassung:
All die in langer Liste aufgeführten Parallelen der Lebenssituation belegen letztlich nur, dass es in der damaligen Großstadt Paris Schulen, Klöster und Haushalte mit gebildeten Lehrern und Schülern, aber auch Schülerinnen gab, und dass diese mitunter eine unerlaubte und damit nicht problemlose Beziehung eingehen konnten. Diese Situation traf auch, aber eben nicht ausschließlich, auf Heloïsa und Abaelard zu!
Der Vergleich der Epistolae Duorum Amantium mit zeitgenössischer Liebesliteratur, wie mit den Carmina Burana, den Werken von Marbod von Rennes, Fulco von Beauvais, Balderic von Bourgeuil, oder mit den erhaltenen Liebesbriefen aus Regensburg und Tegernsee, Zürich und Fleury, machte weite Teile und den eigentlichen Wert der oben zitierten, neueren Arbeiten von Mews, Jaeger oder Ward aus. Die literaturgeschichtliche Einordnung ist sicher interessant; sie erweitet enorm den Horizont des Lesers. Allein - zur Klärung der Authentizität der Briefe trägt der Vergleich letztlich nichts bei. Mews räumt dies auch in seiner Schlussfolgerung ein:
In welch hohem Maß die Epistolae Duorum Amantium literarische Kunstprodukte sind, erkennt man u. a. an folgenden Merkmalen:
Es finden sich fast 300 Junkturen und Zitate aus der damals bekannten Literatur, von der Antike und Schöpfungsgeschichte bis zur Gegenwart, nahezu alle Tropen und Figuren der lateinischen Antike, Reimprosa, Cursus und Metrik, Verwendung von poetischen und lyrischen Inhalten, Einsatz von Proverbien und seltenen Ausdrücken, vor allem Gräzismen. Mit dieser Sprachkunst wird exemplarisch ein Liebesbegriff entwickelt, welches gleichermaßen christliche und klassische Ideale und körperliche Bedürfnisse vereinigte: amor, amititia, dilectio, caritas. Ebenso exemplarisch werden Liebesleid und Liebesglück geschildert, Treue und Eifersucht. Die Reihe der Briefe beschreibt im Wechsel zwischen Krisis und Lösung einen natürlichen Spannungsboden, der nach einer nochmaligen Steigerung am Schluss unter dramatisch-offenem Ende abbricht. Zuletzt folgt ein elegisches Gedicht über die Macht der Liebe - sozusagen die moralisatio.
Naturgemäß bemüht sich im laufenden Dialog die begabte Schülerin M. weitaus mehr als ihr viel beschäftigter Lehrer V. um literarische Vollkommenheit. Dies ist an der Vielzahl ihrer stilistischen und inhaltlichen Varianten und an der Verwendung eines dunkleren und schwerer lesbaren Lateins leicht zu erkennen. Beide Briefpartner drücken expressis verbis ihr Lern- bzw. Lehrprogramm aus:
qua dictaminis dulcedine te alloquar, dilectissime, mentis mee excedit valenciam - mit welch süßer Formulierungskunst ich Dich anspreche, Geliebtester, übersteigt das Vermögen meines Geistes (M 69)
Ungeachtet sollen die Briefe aber auch Hinweise auf eine konkrete Beziehung zweier real existierender Partner enthalten. Dies wurde bereits von Könsgen so in den Raum gestellt und ist in seiner Arbeit anschaulich dargestellt. Der Übergang zur Beschreibung der konkreten Lebenssituation ist jedoch nur schwer im Laufe des Briefwechsels zu erkennen; vermutlich liegt er erst bei Brief 28 bis 30. Die Trennung zwischen Fiktion und Realität gelingt somit dem Leser nicht immer. Umso schwieriger gestaltet sich die Beurteilung der Authentizität und Urheberschaft.
So ist es zum Beispiel nicht möglich, aus der Verwendung der Reimprosa oder einer Untersuchung der cursus vorschnelle Rückschlüsse zu ziehen. Denn diese waren in der monastischen Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts weit verbreitet. Dasselbe gilt für die klassische Metrik.
Die in den Epistolae vorkommenden philosophischen Begriffe zum spezifischen Wortschatz Abaelards zu erklären, ist ebenfalls kaum möglich. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden.
Mews erklärt in seinem Buch:
Wie fragwürdig Rückschlüsse aus Wortvergleiche sein können, mögen auch folgende Beispiele verdeutlichen:
M. und V. verwenden in ihren Briefen nahezu ausschließlich den Begriff litterae im Sinne von Brief. Abaelard spricht in der Abaelard, Hist. Cal. in Bezug auf Briefe von epistola und scripta. Mit litterae bezeichnet er ausschließlich die Wissenschaften. Zu den litterae der Briefe von Troyes kontrastiert auch Johannes de Veprias Titel Ex epistolis sowie Heloïsas Schilderung in Brief II.
sicut in exordio prefatus sum epistole - wie ich gleich im Anfang meines Briefes vorausschickte (Abaelard, Hist. Cal.)
facilius in studio litterarum profeci - ziemlich leicht habe ich im wissenschaftlichen Studium Fortschritte gemacht (Abaelard, Hist. Cal.)
crebris me epistolis visitabas - mit häufigen Briefen suchtest Du mich auf (Heloïsa, Brief II)
huius epistole fere omnia felle et absintio plena - fast alles in diesem Brief ist voll Galle und Wermut (Heloïsa, Brief II)
numquam epistolam tuam accipio - niemals empfange ich einen Brief von Dir (Heloïsa, Brief II)
in epistola illa - in jenem Brief (Heloïsa, Brief II)
crebris litteris de his - in häufigen Briefen darüber (Heloïsa, Brief II)
tanto amplius maturande sunt littere - umso mehr muss ich meinen Brief beschleunigen (Heloïsa, Brief II)
quam iocunde vero sint absentium littere amicorum - wie angenehm aber sind Briefe von abwesenden Freunden (Heloïsa, Brief II)
quanto iocundiores sunt littere - umso angenehmer ist ein Brief (Heloïsa, Brief II)
M. verwendet in den epistolae - wie bereits gezeigt - häufig den Begriff specialis (M 21, M 25, M 76, M 79), V. dagegen nie. Diametral anders verhält es sich in den Briefen Abaelards und Heloïsas: Heloïsa verwendet nur zweimal den Begriff in Brief II, Abaelard dagegen 10 Mal in der Abaelard, Hist. Cal., 5 Mal in Brief III, einmalig in Brief V.
Der Begriff specialis ist im übrigen keineswegs spezifisch für Heloïsa und Abaelard, sondern findet sich auch zahlreich in anderer zeitgenössischer Literatur jeglicher Art, z.B. auch bei Balderich von Bourgeuil (siehe Ernstpeter Ruhe, De amasio ad amasiam, München, 1975) und sogar mehrfach in den Urkunden des Paraklet-Klosters. Beispiel: debemus specialiter curam impendere (Garnerius, Bischof von Troyes, Urkunde von 1194, aus: Cartulaire du Paraclet).
M. verwendet im Gegensatz zu V. häufig das Wortpaar tot - quot, insgesamt 7 mal. Heloïsa und Abaelard dagegen verwenden dieses Wortpaar in ihren persönlichen Briefen überhaupt nicht.
Schon früher war die Vorliebe Abaelards und Heloïsas für das Wort saltem bekannt (siehe Charlotte Charrier, Héloïse dans l'Histoire et dans la légende, Paris, 1933). Die Historia Calamitatum enthält dieses Wort insgesamt 8 mal, Heloïsas Brief II 6 mal, Brief IV 4 mal, Abaelards Brief 4 mal, Abaelards Dialogus inter Philosophum, ludaeum et Christianum insgesamt 7 mal. Die Epistolae Duorum Amantium enthalten dieses Wort 4 mal für M. und 2 mal für V. Trotzdem sind aus diesen Analogien vorschnelle Rückschlüsse nicht erlaubt, da andere Schriften Abaelards das Wort saltem überhaupt nicht enthalten, z.B. Abaelards Brief III oder die Schrift De Intellectibus.
Grobe Diskrepanzen ergeben sich auch bei der Verwendung des Wortes unicus. Während M. den Begriff unicus nur einmal in der Anrede gebraucht, verwendet V. dieses Wort auffallend oft als Anrede: zehnmal!
lassate mentis unico solamini - dem einzigen Trost seines müden Geistes (V 2)
unico remedio suo - seinem einzigen Heilmittel (V 31)
unice expectacioni sue - seiner einzigen Erwartung (V 37)
unica quies mea - meine einzige Ruhe (V 47)
inter unice amantes - zwischen einzigartig Liebenden (V 63)
unice suavitati sue - seiner einzigen Sanftheit (V 75)
unico gaudio suo - seiner einzigen Freude (V 89)
unici amoris constanciam - die Beständigkeit einzigartiger Liebe(V 99)
unice sue - seiner Einzigen (V 110)
unice tue -Deiner Einzigen (Heloïsa, Brief II)
ut te tam corporis mei quam animi unicum possessorem ostenderem - damit ich Dich als einzigen Besitzer meines Körpers wie meiner Seele zeigte (Heloïsa, Brief II)
vale, unice - lebe wohl, Einziger (Heloïsa, Brief II)
unico suo post Christum unica sua in Christo - ihrem Einzigen nach Christus, seine Einzige in Christus (Heloïsa; Brief IV)
miror, unice meus - ich wundere mich, mein Einzigartiger (Heloïsa; Brief IV)
rogas unice - Du fragst, Einziger (Heloïsa; Brief IV)
parce itaque unicae saltem tuae - verschone wenigstens deshalb Deine Einzige (Heloïsa; Brief IV)
Zusammenfassung:
Wortvergleiche aus dem Bereich der Philosophie tragen insgesamt wenig zur Klärung der Authentizität bei, da die betreffenden Schlagworte im Paris des 12. Jahrhunderts in den öffentlichen Disputationen verwendet wurden und somit allgemein zur Verfügung standen. Der Wortschatz der disputationes dürfte z.T. sogar Modecharakter in den intellektuellen Kreisen der Schulstädte angenommen haben. Dies gilt insbesondere auch für die Wörter scibilitas und indifferenter. All diese Wörter können deshalb nicht als spezifisch für Abaelard reklamiert werden. Die Häufigkeiten spezieller Begriffe variieren innerhalb und zwischen den Briefcorpora und im Vergleich mit sonstigen Schriften so stark, dass für Heloïsa und Abaelard spezifische Profile nicht erarbeitet werden können. Ein Vergleich mit den Epistolae ist wegen deren Exzerptcharakters sowieso nicht möglich. Es ist insgesamt fragwürdig, nur schriftliche Zeugnisse zur Analyse des Sprachgebrauches heranzuziehen. Dieses Unterfangen führt zu einem verzerrten Bild, da speziell die Philosophie sehr umfangreich mündlich tradiert wurde, und obendrein nur wenige Werke der klassischen Philosophie überhaupt bis dato bekannt waren.
Ist schon der sprachliche Vergleich der Epistolae mit dem späteren Briefwechsel von Abaelard und Heloïsa problematisch, dann erst recht der inhaltliche:
Der seit dem 13. Jahrhundert bekannte Briefwechsel Heloïsas und Abaelards erfolgte - chronologisch gesehen - mehr als 15 Jahre nach dem Wechsel etwaiger Liebesbriefe. Die Lebenssituation der Akteure hatte sich entscheidend verändert: Beide waren nach einschneidenden Erlebnisses wie Kastration und unfreiwillige Konversion stark charakterlich gewandelt. Sie hatten Jahre personaler Einsamkeit durchlebt. Vor allem aber hatte sich der Bildungshorizont stark verschoben: Abaelard hatte in St. Denis, im Paraklet und in St. Gildas unzählige Werke, die ihm vorher unbekannt gewesen waren, studiert. Die Quellensammlung Sic et Non spiegelt dies eindrucksvoll wieder. Auch Heloïsa mag sich in Argenteuil und später im Paraklet literarisch weitergebildet haben. Das Cartularium des Paraclet berichtet von Bücherschenkungen: Petrus, sacerdos Parrigniaci, dedit... libros suos et quidquid habebat tam in edificiis quam in mobili. Religiös-theologische Inhalte bestimmten von nun an das Denken der beiden. Dass Abaelard später zu einer durchaus anderen Einschätzung von Liebe fähig war, erkennt man an seiner Definition von Liebe in der Introductio der Theologia Scholarium:
Ein Vergleich der literarischen Quellen, die in den Epistolae und den späteren Briefen Abaelards und Heloïsas herangezogen, bzw. zitiert werden, ist vielleicht interessant in Bezug auf die jeweilige Lebenssituation. Keinesfalls ist ein derartiges Quellenvergleich tauglich im Sinne der Beweisführung in Sachen Identität der Urheberschaft. Lediglich ein Vergleich der in den Epistolae enthaltenen Quellen und des Kenntnisrahmens Heloïsas und Abaelards zum Zeitpunkt ihrer Liebesbeziehung, der jedoch aus ihrer Chronik erschlossen werden muss, ist sinnvoll: Hieraus ergibt sich zum Beispiel der Rückschluss, das M. eine weitaus umfassendere theologische Vorbildung als V. hatte, V. dagegen eine Vorliebe für Gesänge und Lieder. Beide hatten Einblick in Teile der klassischen Literatur; zur Zeit des Briefwechsels interessierten sie sich vornehmlich und situationsgerecht für Ovid und seine Liebeskunst, aber auch für Cicero. Dies mag durchaus dem Bildungshorizont von Heloïsa und Abaelard entsprochen haben, traf jedoch wiederum auch für ein anderes Liebespaar der damaligen Zeit im Lehrer-Schüler-Verhältnis zu. Im übrigen ist von einer wagemutigen Sprache, die Abaelard in der Historia Calamitatum für sich reklamierte, in den Briefen von Troyes wenig zu spüren - ganz im Gegenteil!
Die meisten der obenstehenden Parallelen in den Charakterzügen suggerieren zwar eine Identität von M. und V. sowie Heloïsa und Abaelard, erlauben jedoch bei genauerem Hinsehen keinen Beweis. Die betreffenden Textstellen weisen z. T. stark topischen Charakter auf, und könnten wiederum auch für ein anderes Lehrer-Schüler-Paar mit entsprechendem Bildungshorizont zutreffen.
Um so wichtiger wird jetzt die Frage, ob sich durch vergleichende Analyse gar werkimmanente Widersprüche aufdecken lassen, welche gegen eine gemeinsame Urheberschaft der Briefe sprechen. Dies ist in der Tat der Fall:
Abaelard schildert sich selbst in der Historia Calamitatum als einen relativ eitlen Eroberer Heloïsas, als einen nach heutiger Sprechweise typischen "Macho". Aus Übermut und Selbstgefälligkeit heraus habe er sich in die hübsche und kluge Heloïsa verliebt, den Zutritt in ihr Haus als Privatlehrer quasi erschlichen und mit ihr überwiegend sexuelle Beziehungen aufgenommen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er höhere Liebesideale zunächst nicht verfolgt habe.
amor meus, qui utrumque nostrum peccatis involvebat, concupiscentia, non amor dicendus est - meine Liebe, die uns beide in Sünden verstrickte, muss man Begehrlichkeit, nicht Liebe nennen (Abaelard, Brief V)
nosti quantis turpitudinibus immoderata mea libido corpora nostra addixerat, ut nulla honestatis vel Dei reverentia in ipsis etiam diebus Dominicae passionis, vel quantarumcunque solemnitatum ad hujus luti volutabro me revocaret - Du weißt, mit welch großer Gemeinheit meine unmäßige Lüsternheit unsere Leiber preisgegeben hat, so dass keine Ehrfurcht vor Anstand oder Gott sogar in der Karwoche noch irgendwelche Feierlichkeiten mich von diesen schmutzigen Schweinereien abhielten (Abaelard Brief V)
sed et te nolentem... quae natura infirmior eras, saepius minis ac flagellis ad consensum trahebam - aber auch wenn Du nicht wolltest... wo Du doch von Natur aus die Schwächere warst, habe ich Dich des Öfteren mit Drohungen und Schlägen gefügig gemacht (Abaelard, Brief V)
dum tecum carnali fruerer voluptate, utrum id amore vel libidine agerem incertum pluribus habebatur - als ich des Fleisches Lust in Deinen Armen genoss, da durften die meisten unsicher sein, ob ich es aus Liebe oder Lüsternheit trieb (Heloïsa, Brief II)
cum me ad turpes olim voluptates expeteres - als Du mich einst zu schändlichen Vergnügen auffordertest (Heloïsa, Brief II)
que coniugata, que virgo non concupiscebat absentem et non exardebat in presentem, que regina vel prepotens femina gaudiis meis non invidebat vel thalamis - welche Ehefrau, welche Jungfrau begehrte Dich nicht, wenn Du abwesend warst und erglühte nicht, wenn Du anwesend warst, welche Königin oder mächtige Frau beneidete mich nicht wegen meiner Freuden oder um mein Liebeslager (Heloïsa, Brief II)
et si uxoris nomen sanctius ac validius videretur, Dulcius mihi semper extitit amice vocabulum aut, si non indigneris, concubine vel scorti - auch wenn der Name Gattin heiliger oder wertvoller erschien, erwies sich mir immer das Wort Freundin süßer, oder - hoffentlich bist Du mir nicht böse - Konkubine oder Hure (Heloïsa, Brief II)
pristinis vacaremus voluptatibus - um für die früheren Leidenschaften frei zu sein (Heloïsa, Brief IV)
diu ante carnalium illecebrarum voluptatibus - lange vor den Vergnügen der fleischlichen Verlockungen (Heloïsa, Brief IV)
illae, quas pariter exercuimus, Amantium voluptates dulces mihi fuerunt, ut nec displicere mihi, nec vix a memoria labi possint - jene Vergnügen der Liebenden, die wir gleichermaßen übten, waren mir so süß, dass sie mir weder missfallen noch kaum aus dem Gedächtnis weichen können (Heloïsa, Brief IV)
jucundissimarum experientia voluptatum - die Erfahrung der hocherfreulichen Vergnügen (Heloïsa, Brief IV)
si, nisi poeniteat me commisisse priora, salvari nequeam, spes mihi nulla foret, dulcia sunt adeo commissi gaudia nostri, ut memorata iuvent, quae placuere nimis - könnte ich nur dann gerettet werden, wenn frühere Sünden mich reuten, dann würde mir keine Hoffnung zuteil, denn so süß ist die Freude über das, was wir begangen, dass mich die Erinnerung über das, was allzu sehr gefallen hat, immer noch erfreut (Abaelard, Heloïsa zitierend, Monita ad Astralabium)
nemo debet vivere nec in bono crescere, qui nescit diligere et amores regere - niemand muss leben noch im Guten wachsen, der nicht zu lieben und die Leidenschaften zu lenken weiß (M 48)
nosti, o maxima pars anime mee, multos multis se ex causis diligere, sed nullam eorum tam firmam fore amiciciam quam, que ex probitate atque virtute et ex intima dilectione proveniat - Du weißt, oh größter Teil meiner Seele, dass viele sich aus vielerlei Gründen lieben, aber dass sie keine so feste Freundschaft erlangen, wie sie aus der Redlichkeit und Tugend und innerer Hochschätzung resultiert (M 49)
nam qui ob divicias vel voluptates sese diligere videntur, eorum nullomodo diuturnam arbitror amiciciam, cum res ipse, propter quas diligunt, nullam videantur diuturnitatem habere - denn diejenigen, die sich wegen Reichtum und Vergnügen zu lieben scheinen, haben meiner Meinung nach keine anhaltende Freundschaft, da die Sachen selbst, deretwegen sie lieben, keine Beständigkeit zu haben scheinen (M 49)
magno caritatis pignore me tibi intimaveram, quamdiu vera dilectio tua firma in radice pendebat - mit dem großen Pfand der Liebe hatte ich mich Dir verinnerlicht, solange Deine wahre Liebe an fester Wurzel hing (M 60)
ille amicus non est laudandus nec ex omni parte perfectus, qui non est memor amici nisi in tempore usus necessarii - jener Freund ist nicht zu loben noch vollständig vollkommen, der an den Freund nur in Zeiten des Nutzens denkt (M 94)
Die Haltung von M. gegenüber Gott ist eng mit dem Liebesideal verbunden. In den Epistolae erweist sich M. als tiefgläubig; von Anfang an bezieht sie Gott in Ihre Liebesbeziehung mit ein. Die Fülle und Varianz der Formulierungen schließen eine formelhafte Verwendung des Gottesbegriffes weitgehend aus.
sicut tibi cupio, ita michi faciat deus - so wie ich Dich begehre, so mache Gott mit mir (M 26)
alma dei dextra te protegat intus et extra - die rechte Hand Gottes schütze Dich innen und außen (M 34)
quia deo teste cum sublimi et precipua dilectione te diligo - weil ich - Gott ist mein Zeuge - Dich mit hehrer und ausnehmender Hochschätzung liebe (M 53)
deum enim testem habeo, quod vera et sincera dilectione te diligo - ich habe Gott zum Zeugen, dass ich Dich mit wahrer und aufrichtiger Hochschätzung liebe (M 55)
omnipotens deus, qui neminem vult perire, qui supra paternum amorem diligit peccatores, illuminet cor tuum gracie sue splendore et reducat ad viam salutis, ut cognoscas, que sit voluntas eius beneplacens et perfecta - der allmächtige Gott, der niemand ins Verderben stürzen will und der über Liebe eines Vaters hinaus die Sünder liebt, beleuchte Dein Herz mit dem Glanz seiner Gnade und führe es zum Weg des Heiles zurück, damit Du erkennest, welches sein wohlgefälliger und vollkommener Wille sei (M 60)
cum omnia factus sis michi excepta solius dei gracia - da Du für mich alles geworden bist - abgesehen von der Gnade des einen Gottes 79)
protegat te valida manus omnipotentis dei - es schütze Dich die starke Hand des allmächtigen Gottes (M 77)
deo teste, cui difficile est verba dare fallacie, nichil est in omni orbe terrarum, quod maius optarem - Gott ist mein Zeuge, den mit Worten zu betrügen schwierig ist: Es gibt nichts Größeres auf der ganzen Erde, was ich mir wünschte (M 86)
sitire deum et illi adherere soli necessarium est omni viventi - nach Gott zu dürsten und ihm allein anzuhängen, ist notwendig für jedes Lebewesen (M 12)
nulla mihi super hoc merces expectanda est a Deo, cuius adhuc amore nichul me constat egisse - darüber hinaus habe ich von Gott keinen Lohn zu erwarten, da feststeht, dass ich bisher nichts aus Liebe zu ihm getan habe (Heloïsa, Brief II)
in omni autem - Deus scit - vitae meae statu, te magis adhuc offendere quam Deum vereor, tibi placere amplius quam ipsi appeto, tua me ad religionis habitum jussio, non divina traxit dilectio - in jeder Phase meines Lebens - Gott weiß es - fürchte ich mehr, Dich zu beleidigen als Gott, strebe ich mehr danach, Dir als ihm zu gefallen; Dein Befehl und nicht die Liebe zu Gott hat mich zur Nonne gemacht (Heloïsa, Brief IV)
Die aus den Epistolae Duorum Amantium zu entnehmende Reihenfolge der Ereignisse differiert stark mit der Schilderung der Historia Calamitatum:
In der Historia Calamitatum übernimmt Abaelard zuerst die Leitung der Domschule von Paris und hat diese einige Jahre ungestört inne. Er lehrt sowohl Dialektik als auch Theologie. Nach längerer Zeit, vermutlich nach mehr als Jahresfrist, lernt er Heloïsa kennen und beginnt den Briefwechsel. Erst im Anschluss daran erschleicht sich Abaelard Fulberts Freundschaft und übernimmt schließlich den Privatunterricht des Mädchens.
nosque etiam absentes scriptis internuntiis invicem liceret presentare et pleraque audacius scribere quam colloqui, et sic semper iocundis interesse colloquiis - trotz unserer Abwesenheit durften wir durch geschriebene Botschaften gegenseitig präsent sein und sehr vieles tollkühner schreiben als sprechen, und so allzeit uns angenehm unterhalten (Abaelard, Hist. Cal.)
occasionem quesivi - ich habe eine Gelegenheit gesucht (Abaelard, Hist. Cal.)
Hier besteht von Anfang an ein Briefwechsel zwischen dem Lehrer und seiner Schülerin. Der Beginn des Unterrichts erfolgte also vor und nicht nach dem ersten Brief! Erst relativ spät, in der Mitte des Briefwechsels (M 66), spricht M. in einer Eloge davon, dass der Glanz ihres Lehrers die Nacht seines Vorgängers vertreibt.
Wir erinnern uns: In der Historia Calamitatum hatte Abaelard schon Jahre vorher, vor Beginn eines Briefwechsels mit Heloïsa, seinen Vorgänger abgelöst!
In der Historia Calamitatum steht, dass Heloïsa und Abaelard sich in der Zeit des Privatunterrichts, den Abaelard komplett übernommen hatte, täglich sahen. Da machten weitere Briefe häufig keinen Sinn mehr, zumal die beiden Liebhaber die Nächte miteinander verbrachten. Einigen Stellen ist zu entnehmen, dass sich Abaelard und Heloïsa in dieser Zeit nahezu täglich sahen; anders hätte ein Unterricht auch nicht sinnvoll stattfinden können. Gegen Ende der Unterrichtszeit hatte Abaelard kaum noch Zeit zu anderer Beschäftigung. Erst nach der Entdeckung der Liebesaffäre erfolgte die Trennung. Zu diesem Zeitpunkt war Heloïsa bereits schwanger.
eam videlicet totam nostro magisterio committens, ut quotiens mihi a scolis reverso vaccaret, tam in die quam in nocte ei docende operam darem - er hat sie freilich ganz meinem Unterricht anvertraut, damit ich sie, so oft mir nach der Rückkehr aus den Schulen Zeit blieb, sie zur Tag- und zur Nachtzeit unterrichtete (Abaelard, Hist. Cal.)
et quo me amplius hec voluptas occupaverat, minus philosophie vaccare poteram et scolis operam dare. Tediosum mihi vehementer erat ad scolas procedere vel in eis morari; pariter et laboriosum, cum nocturnas amori vigilias et diurnas studio conservarem - und je mehr mich dieses Vergnügen ergriffen hatte, umso weniger konnte ich mich mit der Philosophie beschäftigen und mich auf den Unterricht konzentrieren. Es war mir ziemlich lästig, in die Schulen zu gehen oder mich dort aufzuhalten; gleichermaßen kostete es mich Mühe, die Nachtstunden für die Liebe und die Tagstunden für das Studium vorzuhalten (Abaelard, Hist. Cal.)
si ergo presens essem - wenn ich also anwesend wäre (V 91)
o si nutu dei acciperem volucris speciem, quantocius volando te visitarem - oh wenn ich auf einen Wink Gottes hin die Gestalt eines Vogels annähme, wie oft würde ich zu Dir fliegen und Dich zu besuchen (M 86)
pendula expectacione vix expectavi, sed quid hec spes michi profuit, que nullum profectum attulit - schwebend in der Erwartung habe ich Dich kaum erwartet; aber was hat mir diese Hoffnung genützt, die keine Erfüllung gebracht hat (M 95)
et illum non datur oculis cernere corporeis, qui nunquam labascit ab intencione mentis - und es bietet sich keine Gelegenheit, mit leiblichen Augen jenen zu sehen, der niemals aus meiner inneren Aufmerksamkeit entschwindet (M 104)
quia uterque nostrum alter alterius conspectui modo in momento presentari valet - weil wir beide uns nur einen Augenblick sehen können (M 109)
verba das ventis, si me pro talibus lapidas, quid faceres ferenti iniurias? ille amicus non est laudandus nec ex omni parte perfectus, qui non est memor amici nisi in tempore usus necessarii - Du sprichst Worte in den Wind, wenn Du mich für solches steinigst; was würdest Du tun, hätte ich Dir Unrecht zugefügt? Jener Freund ist nicht lobenswert noch allseits vollkommen, der an den Freund nur zur Zeit des Nutzens denkt (M 94)
tu non equo mecum sentis animo, sed mutasti mores; idcirco nusquam est tuta fides - Du bist nicht einer Gesinnung mit mir, sondern hast die Anschauungen gewechselt; deshalb gibt es nirgends eine sichere Treue (M 95)
jam fessa sum, tibi respondere nequeo, quod dulcia pro gravibus accipis ac per hoc animum meum contristaris - schon bin ich müde und kann Dir nicht mehr antworten, weil Du Süßes als Schweres vernimmst und dadurch mein Herz traurig machst (M 12 a)
Nach den Angaben der Historia Calamitatum hatte sich Abaelard bereits vor dem Liebesverhältnis mehrere Jahre lang mit Philosophie, vor allem der Dialektik, zuletzt auch - nach Laon - mit Theologie beschäftigt und beides gelehrt. Von den Werken, die er bereits früher bearbeitet hatte, erwähnte Abaelard expressis verbis Porphyrius mit einem Aristoteleskommentar. Er dürfte sich jedoch auch mit anderen Werken von Aristoteles, Platon, Prophyrius, Boethius und seinen Lehrern Roscelin von Compiègne und Wilhelm von Champeaux beschäftigt haben - vermutlich in täglichem Umgang.
que quidem adeo legentibus acceptabiles fuerunt, ut me non minorem gratiam in sacra lectione adeptum iam crederent quam in philosophica viderant. Unde utriusque lectionis studio scole nostre vehementer multiplicate, quanta mihi de pecunia lucra, quantam gloriam compararent ex fama te quoque latere non potuit - diese Lesungen wurden bei den Lesern so günstig aufgenommen, dass sie glaubten, ich hätte keine geringere Ausstrahlungskraft in der theologischen Vorlesung erreicht, als sie sie in der philosophischen gesehen hatten. Die Begeisterung für meine Vorlesungen in beiden Fächern vermehrte die Zahl meiner Schüler ganz erheblich; welcher Gewinn, welcher Ruhm mir daraus erwuchs, das hat auch Dir vom Hörensagen nicht verborgen bleiben können (Abaelard, Hist. Cal.)
de universalibus in hoc ipso precipua semper est apud dialeticos questio ac tanta ut eam Porphirius quoque in Ysogogis suis cum de universalibus scriberet definire non presumeret dicens... - diese Frage galt aber bei den Dialektikern von jeher als eine der wichtigsten in der Lehre von den Universalien, so dass selbst Porphyrius in seinen Isagogen, als er über die Universalien schrieb, sie nicht zu entscheiden wagte, sondern nur sagte... (Abaelard, Hist. Cal.)
me dialectice studium regente - als ich den Dialektiklehrstuhl leitete (Abaelard, Hist. Cal.)
Heloïsa erwähnt in Brief II des bekannten Briefwechsels, dass sie, nachdem sie zufällig Abaelards Historia Calamitatum erhalten hatte, dieses Schreiben bereits an einem für Abaelard typisch formulierten Briefkopf erkannt habe:
V. setzt grundsätzlich die inscriptio, d.h. die Worte für die Empfängerin, an den Briefanfang (an M., V., Gruß); bei M. geht dagegen fünfmal die intitulatio, d. h. die Angabe der Absenderin der inscriptio voraus. Die Grußformel, die salutatio, fehlt bei M. siebenmal, bei V. neunmal. Es ist nicht auszuschließen, dass eventuell die salutatio von Johannes de Vepria zeitweise beim Exzerpieren weggelassen wurde. Trotzdem ist dies nicht sehr wahrscheinlich, da in Brief 109 eigens auf einen Verzicht der salutatio Bezug genommen wird:
Soweit die Liste der bestehenden Widersprüche, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt!
Die Hypothese der Authentizität der Urheber ist nun erheblich ins Schwanken geraten. Umso mehr interessiert jetzt die Frage, mit welcher Methodik und welchen weiteren Argumenten die eingangs erwähnten Veröffentlichungen der jüngsten Zeit die gemeinsame Urheberschaft der Briefwechsel stringent beweisen wollten.
Die eingangs zitierten Autoren, Mews, Ward, Jaeger, vertreten ungeachtet der zuletzt besprochenen und z. T. schwerwiegenden Widersprüche die Ansicht, dass aufgrund der zahlreichen Analogien nicht an einer gemeinsamen Urheberschaft der Briefwechsel zu zweifeln sei. Weitere Arbeiten, die sich in dieser Richtung äußern, werden vermutlich folgen. Es besteht jetzt nicht der Anlass, in großem Umfang Methodenkritik zu äußern. Es wird jedoch jedermann anerkennen, dass eine wissenschaftliche Beweisführung zunächst von einer Hypothese auszugehen hat, welche unabhängig von der verwendeten Untersuchungsmethode nach dem Für und Wider durchleuchtet wird, ehe ein eigentlicher Beweis oder wenigstens eine Wahrscheinlichkeitsaussage erfolgt. Leider haben die genannten Autoren - wohl aus einer gewissen Faszination über die Materie heraus - sich diese Beweisführung erspart und die zu formulierende Schlussfolgerung bereits a priori als Faktum genommen. Mews berichtet bereits in seiner Einleitung:
Entsprechend verhält sich Ward, welcher bereits in seinem Einleitungssatz von einer revolution in our study of the real Heloïsa - Revolution in unserer Studie über die wirkliche Heloïsa spricht.
Jaeger leitet seine Besprechung der Briefe mit dem Satz ein:
Wie evident die Widersprüche der Epistolae Duorum Amantium zu Abaelards Historia Calamitatum sind, wurde bereits aufgezeigt. Während Jaeger und Ward so gut wie nicht auf diese inneren Widersprüche eingehen, erkennt sie Mews sehr wohl. Zunächst ist er auch prinzipiell bereit, die Historia Calamitatum als relevantes Beweismittel anerkennen:
An diesem Beispiel wird deutlich, wie genau die Texte zu lesen sind. Die Mews'sche Ansicht, Abaelard hätte in der Historia Calamitatum aus taktischen Gründen Geschichtsklitterung betrieben und den Pfad der Wahrheit verlassen, ist bei näherer Betrachtung nicht zu halten:
Abaelard hat entgegen weit verbreiteter Ansicht die Historia Calamitatum trotz der literarischen Kunstform eines Trostbriefes sehr wohl an einen konkreten Freund gerichtet. Dies ist daran erkennbar, dass er im Gegensatz zu anderen Briefen hier an Stelle des vos das vertrauliche tu verwendete, und die Historia Calamitatum ursprünglich durch eine sehr konkrete, für Abaelard typische Grußformel eingeleitet wurde. Heloïsa bestätigt dies in Brief II:
Bereits weiter oben sind wir darauf eingegangen, dass sich aus dieser einstigen Grußformel auch ein Widerspruch zu den Epistolae ergibt. Da diese Grußformel in den späteren Fassungen der Historia Calamitatum nicht auftauchte, wurde sie von den meisten Abaelard-Kennern nicht ausreichend ins Kalkül gezogen.
que cum siccis oculis neminem vel legere vel auDire posse estimem, tanto dolores meos amplius renovarunt - da dies - wie ich glaube - keiner trockenen Auges lesen oder hören kann, hat es umso mehr meine Schmerzen erneuert (Heloïsa, Brief II)
Hätte Abaelard in der Historia Calamitatum gelogen oder verfälscht, hätte dies Heloïsa sicher bemerkt und gerügt. Dies ist jedoch keineswegs der Fall! Auch in weiteren Äußerungen, die bereits z. T. oben zitiert wurden, dementiert Heloïsa, die einzige zuverlässige Zeugin, das auf Lustgewinn abzielende, frühe Liebesverhältnis nicht:
dum tecum carnali fruerer voluptate, utrum id amore vel libidine agerem incertum pluribus habebatur - als ich des Fleisches Lust in Deinen Armen genoss, da durften die meisten unsicher sein, ob ich es aus Liebe oder Lüsternheit trieb (Heloïsa, Brief II)
Die Widersprüche zu den Epistolae Duorum Amantium lösen sich also nicht auf! Die Rechtfertigungstheorie zur Historia Calamitatum entbehrt auch unabhängig von diesen recht eindeutigen Aussagen einer inneren Logik. Wenn heute eine in der Öffentlichkeit stehende Persönlichkeit nach früheren Rückschlägen ein Comeback plante, würde sie dieses Comeback mit einer Schrift der Selbstbezichtigung, einer detaillierten und dann noch verfälschten Angabe der eigenen Verfehlungen, begleiten und dabei noch das frühere Liebesverhältnis nachträglich in den Schmutz ziehen? Das einzig Sinnvolle wäre, Gras darüber wachsen zu lassen. Dass dies auch zu Zeiten Abaelards nicht anders war, zeigt der Brief seines alten Feindes Roscelin, welcher sich wegen eigener Verfehlungen jedenfalls nicht offen rechtfertigen wollte:
Im übrigen gibt es keinerlei Hinweise dafür, dass die Historia Calamitatum - wie Mews unterstellt - in Paris kursierte. Abaelard hatte auch sicher nicht die Möglichkeit, zahlreiche Kopien anzufertigen, hätte dies doch im Skriptorium von St. Gildas, in missgünstiger Umgebung, stattfinden müssen. Und wie wäre dann die Kopie der Lebensbeichte, beziehungsweise die Kunde davon, bis in das Kloster Heloïsas gelangt?
Bereits Peter Dronke hatte 1976 Zweifel an diesem Schuld-Sühne-Konzept geäußert:
Die Theorie einer teilgefälschten Historia Calamitatum ist bei genauerer Betrachtung der Textstellen und Berücksichtigung der sonstigen Umstände nicht zu halten! Abaelard schrieb die Historia Calamitatum nicht ausschließlich als Rechtfertigungsschrift, die für eine öffentliche Diskussion zur Wiederherstellung seines Rufes vorgesehen war. Andere Briefbeispiele aus der Zeit belegen, dass in ein- und demselben Schreiben durchaus mehrere Kommunikationsebenen miteinander verwoben werden konnten: So ist zum Beispiel das Schreiben des Abtes Petrus Venerabilis an seine Brüder anlässlich des Todes seiner Mutter (Constable, The letters of Peter the Venerable, I, 153) zugleich ein sehr persönliches und einfühlsames Kondolenzschreiben an seine leiblichen Brüder, aber auch eine Ehrung der Toten gegenüber den Mitgliedern seines Konventes, ein exegetisches Schreiben und ein nahezu hagiographisch intendierter Nachruf an spätere Generationen. Die letzteren Zweckbestimmungen hindern nicht an der Exaktheit der persönlichen Angaben. Getrost darf man derartig ausgefeilte Schreiben, wie es Abaelards Historia Calamitatum oder des Großabtes Kondolenzbrief darstellen, als literarische Raritäten mit erkennbarer Multifunktionalität ansehen, denen im Übrigen wegen der Verwendung des teueren Pergamentes schon zum Zeitpunkt der Abfassung auch ein erheblicher materieller Wert zukam. Welchen Zwecken die Historia Calamitatum Abaelards im Einzelnen auch gedient hat, mag diskussionswürdig sein. Unzweifelhaft ist sie jedoch in erster Linie ein persönlicher Bericht, ein hervorragendes Beispiel für die effektive Selbsthilfe eines an Körper und Seele kranken, verzweifelten Menschen. Abaelard schrieb sich in den einsamen Jahren von Saint-Gildas in erster Linie den Kummer seines bisherigen Lebens vom Leibe, suchte eine höhere Erklärung für seine Misserfolge, vor allem für seinen schändlichen körperlichen Zustand. Vielleicht beabsichtigte er auch eine Rechtfertigung vor der Nachwelt, vermutlich jedoch nicht vor irgendwelchen Zeitgenossen. Er richtete das Schreiben mit hoher Wahrscheinlichkeit an einen realen, wenn auch der Nachwelt unbekannten Freund. Da man ihm selbst nach dem Leben trachtete, war die Autobiographie bei ihm persönlich ja nicht sicher. Wie das Schreiben zu Heloïsa kam, ist allerdings unklar. Sie selbst spricht von einem Zufall:
Bei der Interpretation der zum Abbruch des Briefwechsels führenden Briefe M 112 und V 113 der Epistolae Duorum Amantium wirft die Interpretation Mews' erneut Fragen auf:
Mews interpretiert eas litteras als den gesamten vorangegangenen Briefwechsel, bezieht den Begriff also auf die Gesamtheit der Briefe. Den Grund der Freude von M. sieht er in einer Schwangerschaft von M. Dies ist in der Tat ein verführerischer Gedanke, passt er doch so gut zur Lebensgeschichte Heloïsas und Abaelards. Allerdings besteht hier ein Missverständnis: litterae ist ein lateinisches Pluralwort, welches zwar prinzipiell singularisch oder pluralisch übersetzt werden kann, im Kontext der Epistolae jedoch nahezu ausnahmslos singularisch verwendet wird. Würde sich der Begriff litterae auf mehrere, bereits länger zurückliegende Briefe beziehen, wäre statt eas litteras die Formulierung illas litteras zu erwarten. Somit steht fest: M. bezog sich in ihrer Freude auf einen bestimmten und vorangegangenen Brief von V. Doch was hätte ein solcher Brief von V. mit einer eingetretenen Schwangerschaft zu tun? Hierfür gibt es keine Erklärung. Außerdem wäre die Anrede des Geliebten als Magister, wie in Brief M 112 erfolgt, geradezu eine Ironie gewesen, hatte doch Abaelard zuvor seine Stellung als Hauslehrer Heloïsas verloren, wie in der Historia Calamitatum nachzulesen ist. Die Schwangerschaftstheorie ist somit unhaltbar.
Von dieser postulierten Haltung ist in dem Gedicht nichts zu spüren: V. berichtet schwärmerisch, in höchsten Tönen, von seiner Liebe. Von einer Distanzierung zu M. ist keine Rede, ganz im Gegenteil. Der letzte Satz si tibi succumbo, victus amore tuo - wenn ich Dir zu Füßen liege, besiegt von der Liebe zu Dir ist in keiner Weise negativ zu verstehen: V. ist hoffnungslos verliebt. Ein typischer Topos der Liebe! Sollten das die Gefühle Abaelards gewesen sein, als er von der Schwangerschaft Heloïsas erfuhr? Äußerst unwahrscheinlich! Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass Abaelard in dieser schwierigen Lage überhaupt noch zum Abfassen eines so langen und schwärmerischen Gedichtes Zeit und Muße gehabt hätte.
Was die eigentlichen Motive für Brief M 112 gewesen sein mögen, entzieht sich wegen des kurzen und rätselhaften Briefes M 112a unserer Kenntnis. Brief V 113 wird vermutlich erst später angefügt worden sein. Da er in gewisser Weise eine Zusammenfassung und Bewertung des ganzen Briefwechsels darstellt, wirkt er wie ein künstliches literarisches Gebilde, wie eine moralisatio, weniger wie ein konkreter Brief. Dies wurde bereits weiter oben dargestellt.
Seiner Theorie nach repräsentieren die Briefe bis M 86 den Briefwechsel bis zur Schwangerschaft und Ehe Heloïsas, die Briefe V 87 bis V 113 den Briefwechsel nach der Trennung, also nach Heloïsas Entbindung, nach der Eheschließung und nach der Trennung. Tatsächlich erlangt diese Theorie im Vergleich zu Mews' Darstellung einen höheren Grad der Wahrscheinlichkeit, da sie mit der in den Briefen dargestellten Trennungssituation und den damit verbundenen innere Spannungen korreliert. Nur selten kam es noch zu einem Treffen.
vale, martyr mea - lebe wohl, meine Märtyrerin (V 96)
dulcibus votis copiam demus et famam, que de nobis orta est, paulatim attenuemus - so entsprechen wir unseren süßen Versprechen und entkräften allmählich das üble Gerücht, das über uns entstanden ist (V 101)
et illum non datur oculis cernere corporeis, qui nunquam labascit ab intencione mentis - auch wenn ich ihn, der niemals der Aufmerksamkeit des Verstandes entschwindet, nicht mit körperlichen Augen sehen kann (M 104)
quia spes recedit, nescio an unquam recuperanda - weil die Hoffnung schwindet, weiß ich nicht, ob ich sie je wiedererlangen kann (V 106)
Obwohl sich Ward in seiner Arbeit kaum konkret, sondern meist nur andeutungsweise äußert, interpretiert dabei wohl die Begriffe bravium und pignus als Synonyme für das geschlossenen Ehebündnis. In Brief M 86 sieht er in der Formulierung optimam partem eine Anspielung auf den gemeinsamen Sohn.
possidere optimam partem Marie - den besten Teil Mariens zu besitzen (M 86)
So ist z.B. die Formel optimam partem Marie - den besten Teil Mariens, im Gegensatz zur tätigen Martha, entsprechend einem Bibelzitat (Lukas 10, 41) - in großem Umfang in den diversen Schriftwerken der Zeit anzutreffen und bezeichnet nahezu ausschließlich den Gegensatz zwischen kontemplativem und aktiv-tätigem Christentum. Hier nur eines der vielfältigen Beispiele: Im Mai 1244 ersuchte Ermengardis, die Äbtissin des Paraclet, um eine Beschränkung der Nonnenzahl in der Priorei Boran mit folgenden Worten:
weil die Nonnen der Priorei Boran, deren zu hohe Zahl die Möglichkeiten überschreitet... gezwungen sind, vom besten Teil Mariens, welchen sie gewählt hatten, ganz Abstand zu nehmen und den Werken Marthas nachzugehen (Brief vom Mai 1244, Cartulaire des Paraclet)
et pignus fidei, quod dedit ultro michi - und das Unterpfand der Treue, das Du mir freiwillig gegeben hast (M 69)
Ward macht auch nicht plausibel, warum M. in der vermeintlichen Rolle als Heloïsa in Brief M 112, also kurz vor Ende des Briefwechsels, V. mit magistro suo nobilissimo atque doctissimo - ihrem vornehmsten und gelehrtesten Lehrer - anreden sollte. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Heloïsa und Abaelard hatte ja bereits lange zuvor und unter dramatischen Umständen geendet!
Insgesamt ist es nicht glaubhaft, dass sich das Paar nach gewaltsamer Trennung, Schwangerschaft, gemeinsamer Flucht, Entbindung, heimlicher Ehe, Misshandlungen Heloïsas und Verbringung nach Argenteuil noch in Metaphern der Liebe, in verklausulierten Begriffen und Umschreibungen hätte äußern sollen. Es sei an die schonungslose Offenheit Heloïsas im späteren Briefwechsel erinnert!
Die zahlreichen Parallelen zwischen den Epistolae Duorum Amantium und den Werken Heloïsas und Abaelards ergeben letztlich - trotz ihrer Fülle - keinen Beweis für die Identität der Verfasser. Die Epistolae tragen zum großen Teil rhetorischen Charakter. Sie behandeln die Liebe in ihren Varianten und Ausprägungen, schildern ihre Wandelbarkeit, vermitteln gleichermaßen Liebesglück und Liebesleid. Weite Abschnitte sind durchsetzt mit Zitaten aus der damals bekannten Literatur, sie enthalten unzählige formelhafte Wendungen, Allegorien, Metaphern, Epithete. Mitunter dienen sie als Anwendungsfeld für diverse literarische Stilmittel wie Reimung, Metrik, Tropen und Figuren. Unbestreitbar haben die Epistolae einen hohen literarischen und philologischen Wert; es sind wunderbare Beispiele mittelalterlicher Epistulographie. Wenngleich es bei der hohen Gesamtzahl an Briefen auch nicht wahrscheinlich ist: Wegen stilistischer Eigenheiten können die Briefe prinzipiell als das Produkt realer Briefpartner durchgehen.
Könsgen hatte in seiner Dissertationsarbeit von 1974 die Frage aufgeworfen: Authentizität der Briefe oder literarische Fiktion? Diese Frage wird man, ehe sich nicht gewichtigere Argumente in der einen oder anderen Richtung finden, am besten mit einem sowohl - als auch beantworten müssen. Wahrscheinlich sind die Epistolae authentische Briefe und literarische Fiktion zugleich. Nur einzelne Textstellen erlauben einige wenige Rückschlüsse auf das tatsächliche Befinden der Verfasser.
Auf eine Urheberschaft Heloïsas und Abaelards rückschließen zu wollen, dafür ist die Beweislage zu dürftig. Wirkliche Angaben von Beweis-Charakter enthalten die Briefe nicht. Zu groß ist in einzelnen Punkten die Diskrepanz zu den Primärquellen. Die bis dato vorliegenden Publikationen sind geprägt durch die Vorliebe der Autoren fürs literarische Genre, lassen jedoch einige eklatante Widersprüche unberücksichtigt. Die Ansicht, die Epistolae Duorum Amantium ergäben im Gegensatz zur Historia Calamitatum das wahrere Bild der Beziehung zwischen Abaelard und Heloïsa, stellt letztlich die Authentizität des schon seit dem 13. Jahrhundert bekannten Briefwechsels derart in Frage, dass der Beweis der identischen Urheberschaft ad absurdum geführt wird.
Das ganz Entscheidende kommt jedoch zuletzt: Die gesamte Liebesbriefdiskussion geht von der Prämisse aus, dass Heloïsa und Abaelard in der Tat einen Liebesbriefwechsel geführt haben. Doch bei genauer Übersetzung der beiden einzigen darauf hindeutenden Textstellen aus ihrem Briefwechsel ergibt sich ein gründlich anderer Eindruck:
Tanti quippe tunc nominis eram et iuventutis et forme gratia preminebam, ut quamcunque feminarum nostro dignarer amore nullam vererer repulsam. Tanto autem facilius hanc mihi puellam consensuram credidi, quanto amplius eam litterarum scientiam et habere et diligere noveram; nosque etiam absentes scriptis internuntiis invicem liceret presentare et pleraque audacius scribere quam colloqui, et sic semper iocundis interesse colloquiis...
Mein Name war damals hoch gefeiert, und ich stach im Reiz meiner Jugend und Schönheit hervor, so dass ich keine Zurückweisung fürchten zu müssen glaubte, wenn ich eine Frau meiner Liebe würdigte, mochte sie sein, wer sie wollte. Von diesem Mädchen aber glaubte ich, dass sie sich mir um so lieber hingeben werde, als sie wissenschaftliche Bildung besaß und schätzte, wie ich wusste. So könnte es auch uns eventuell möglich sein, im Falle der Trennung schriftlich miteinander zu verkehren und dabei das Meiste verwegener hinzuschreiben als auszusprechen und so immer in angenehmem Dialog zu bleiben... Hist. cal.
Hier, in der Historia Calamitatum, hat Abaelard ausschließlich im Konjunktiv der Möglichkeit formuliert, womit er lediglich seine damalige Absicht begründete, einen Liebesbriefwechsel zu etablieren. Mit keinem Wort schrieb Abaelard jedoch, dass Heloïsa auf seine stürmischen Anträge geantwortet hätte. Durch die fehlenden Bestätigung des Briefdialogs glauben wir an Heloïsa den nahezu zeitlosen Archetypus weiblichen Verhaltens zu erkennen, der es einem liebenden Mädchen gebietet, sich eher erobern zu lassen, als seine Geheimnisse brieflich feilzubieten. Wie unklug und völlig inadäquat wäre es für diese junge Heloïsa mit ihren hohen ethischen Grundsätzen gewesen, das Geheimnis der eigenen Liebe dem viel älteren und allbekannten Eroberer vorschnell und plump in schwelgenden, manchmal fast manieristisch wirkenden Metaphern preiszugeben. So darf man getrost davon ausgehen, dass auch Heloïsa damals auf Abaelards Ansinnen zunächst mit gezielter Zurückhaltung reagierte. Doch ein solches Verhalten verbietet eben einen überbordenden, im Wechselspiel von Schreiben und Antwort eigenartig starr und ping-pong-haft wirkenden Briefwechsel. Falls dieser Schluss der einen oder anderen Leserin zu weit geht, so sei auf die spätere etwas vorwurfsvolle Stellungnahme Heloïsas verwiesen, die genau diesen Sachverhalt bestätigte:
Cum me ad turpes olim voluptates expeteres, crebris me epistolis visitabas, frequenti carmine tuam in ore omnium Heloysam ponebas; me platee omnes, me domus singule resonabant.
Weil Du mich einst zu Deinen schändlichen Vergnügungen begehrtest, hast Du mit ständigen Briefen Kontakt gesucht; den Namen Deiner Heloïsa hast Du in zahlreichen Gedichten in aller Munde gelegt. Mich verkündeten alle Plätze, alle Häuser in einzigartiger Weise... Brief 1, Heloïsa an abaelard
Woraus, bitte, ist hier abzuleiten, dass Heloïsa die Briefe und Gedichte Abaelards mit gleichgewichteten Schreiben, nach Inhalt und Zahl, beantwortet hätte?
Der Liebesbriefwechsel zwischen Heloïsa und Abaelard ist - so scheint es - bei genauerem Hinsehen nichts anderes als ein Klischee - eine jener Legenden, die sich um ihre Geschichte ranken und jede objektive Sicht erschweren. Insofern muss der Versuch, den "verschollenen Liebesbriefwechsel" zu entdecken, von vorne herein als ein hoffnungsloses Unterfangen angesehen werden.
Was die Epistolae Duorum Amantium betrifft, so kann man nur festhalten: Dieser Liebesdialog eines berühmten Lehrers und einer hochbegabten Schülerin im Frankreich des 12. Jahrhunderts beschreibt eine von hohen Idealen getragene, aber nicht unproblematische Beziehung. Selbst wenn sich in ihm Hinweise auf einen reale Gesprächssituation ergeben, so weist er dennoch in hohem Maße, wenn nicht ausschließlich, einen fiktiven bzw. topischen Charakter auf. Bei den Dialogpartnern handelt es sich allenfalls um ein Paar wie Heloïsa und Abaelard, nicht um diese selbst. Bereits 1974 hatte Ersteditor Könsgen ein entsprechendes Resümee gezogen. Dem wollen wir nicht hinzufügen. Mögen die Briefe uns das bleiben, was sie eigentlich sind: Absolut lesenswerte, aber eben anonyme Exemplare mittelalterlicher Briefkunst.
[Nachtrag 9/2003: Peter von Moos hat zwischenzeitlich ein fast den Umfang eines Buches erreichendes, philologisch-literaturhistorisches Fachgutachten vorgelegt, welches in gewohnter rhetorischer Brillanz und exorbitanter literaturhistorischer Beschlagenheit die oben genannte Autorenhypothese verwirft und eine Entstehung der Briefe vor dem Ende des 13. Jahrhunderts dementiert. Wer mehr dazu wissen möchte, auch zu den z. T. noch unveröffentlicht gebliebenen Stellungnahmen einiger anderer Fachwissenschaftler, sei auf die Originalarbeit verwiesen: Peter von Moos: Die Epistolae duorum amantium und die säkulare Religion der Liebe. Methodenkritische Vorüberlegungen zu einem einmaligen Werk mittellateinischer Briefliteratur, in: Studi Medievali 44, 2003]
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[Nachtrag 5/2004: Jan Rüdiger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschäftigte sich in einem Feuilleton-Beitrag ebenfalls mit der Verfasserfrage der EDA und zeigte sich ebenso skeptisch wie der Autor dieser Seiten:
Echt gefunden
Nichts ist ärgerlicher als ein anonymes Werk. Es entzieht sich dem Begehren, von Mensch zu Mensch zu gelangen, und keine biographische Information enthebt den Leser der Mühe, sich dem Werk zu stellen. Man verstehe recht: Das Nachdenken über die Jahre Thomas Manns am Katharineum kann sicher nicht nur den Genuss an, sondern auch das Verständnis von Hanno Buddenbrooks Schulzeit befördern. Und das Streben der Literaturwissenschaft nach der Zuschreibung anonymer Werke kann durchaus von so lauteren Motiven wie Erkenntnisgewinn getrieben sein.
Eines der größten Korpora mittelalterlicher lateinischer Liebesdichtung, die "Epistolae duorum amantium", ist ein anonymes Werk. Es handelt sich um über hundert Briefe, die ein Mann an eine Frau und diese an ihn richtet, in Sprachform und Gedankenwelt unverkennbar auf das zwölfte Jahrhundert verweisend, auf die große Zeit des Protohumanismus und der höfischen Liebe, das schönste Stück Mittelalter überhaupt. Die Sammlung, überliefert in einer spätmittelalterlichen Handschrift aus dem Kloster Clairvaux (dem Kloster des heiligen Bernhard, des großen Predigers der göttlichen Liebe), wurde 1974 von Ewald Könsgen sorgfältig ediert und mit einem Fragezeichen philologischen Mißbehagens als "Briefe Abaelards und Héloïses?" untertitelt. Spricht doch die Frau den Mann ein paar Mal als "ihren edlen und gelehrten Meister" an, dessen Brillanz "alle Halsstarrigkeit Frankreichs" bezwinge, und er nennt sie "den einzigen Schüler der Philosophie unter allen Mädchen unserer Zeit" - an wen sollte man angesichts eines in geschliffenem Latein geschriebenen, in der Originalität des Räsonierens über die Liebe ganz außergewöhnlichen Briefwechsels da denken, wenn nicht an das berühmteste Intellektuellenpaar, das je gelebt hat und von dem man so gern mehr Selbstzeugnisse hätte als die acht unter Abaelards und Héloïses Namen überlieferten Briefe sowie Abaelards eigene "Geschichte meiner Mißgeschicke"? Kein einziges Textindiz erlaubt eine positive Zuschreibung, und so begnügte sich Könsgen seinerzeit mit der Feststellung, der außergewöhnliche Briefwechsel zeige ein Abaelard und Héloïse ähnliches Paar. Kurz darauf begann allerdings die Debatte um die Echtheit der bekannten Briefe Héloïses: Sind sie das Werk einer Frau oder vielmehr die ovidianische Fiktion einer weiblichen Briefschreiberin durch einen Mann?
Die hundert anonymen Briefe gerieten in den Schatten der Grundsatzdiskussion über die Möglichkeit weiblicher Intellektualität im Mittelalter. Derweil studierte Constant J. Mews bei den großen englischen Mediävisten Richard Southern und David Luscombe und machte sich später als Abaelard-Herausgeber in Fachkreisen einen Namen. Das Umfeld an der Monash University in Australien und die Lektüre der Hildegard von Bingen machten, so schreibt er, "mir bewusst, wie wichtig das Thema ,gender' für das Verständnis der lateinischen Tradition ist". Mit diesem Bewußtseins las er Anfang der neunziger Jahre die "Briefe zweier Liebenden" und bekennt, ihm sei ein Schauder über den Rücken gelaufen angesichts einiger typisch Abaelardscher Termini in den Briefen des männlichen Parts. Das Ergebnis dieses Erlebnisses war ein 1999 in New York erschienenes Buch, "The Lost Love Letters of Héloïse and Abelard".
Könsgens Fragezeichen ist hier getilgt: Das anonyme Briefpaar sei den berühmten Liebenden einfach so ähnlich, "daß es eine zu große Belastung der Plausibilität darstellt zu behaupten, die Briefe seien von jemand anderem als Abaelard und Héloïse geschrieben". Mit dieser Volte sind sämtliche Bedenken vom Tisch gefegt, grundsätzliche Methodenfragen ebenso wie die Tradition der Briefliteratur, das Umfeld (das durchaus andere Fälle von Lehrer-Schülerin-Briefsammlungen aufweist und in dem das Verfassen von Briefen aus Frauenperspektive zum grammatischen Übungsprogramm von Lateinschülern gehörte) ebenso wie die Möglichkeit zeitgleicher oder späterer literarischer Nachahmung: "Ich argumentiere für die einfachste Lösung, daß sie tatsächlich von Abaelard und Héloïse stammen."
Nun gibt es plötzlich 120 statt acht Briefe, und Mews nutzt sie, um eine Hintertreppenliaison zu erzählen, in der Diener die Briefe auf Wachstäfelchen von einem Teil des Hauses, in dem Abaelard als Logiergast von Héloïses Onkel wohnte, in den anderen schmuggeln. Das Ganze wäre vor allem ein Kuriosum, dem die Gelehrten auch sogleich zahlreich widersprachen (am gründlichsten Peter von Moos in den Studi Medievali, Heft 44, 2003) und vereinzelt zustimmten, und mit der boshaften Bemerkung, hier habe ein australischer Mediävist versucht zu landen, was angloamerikanisch scoop heißt, wäre die Sache abgetan.
Wenn nicht kürzlich in Dänemark das providentiell "entdeckte" Tagebuch von Søren Kierkegaards geliebter Verlobten Regine Olsen von einem kleinen Verlag veröffentlicht worden und am ersten Wochenende komplett ausverkauft gewesen wäre, während die Kierkegaard-Forscher mit ihren Zweifeln nur zusehen konnten. Wenn man nicht an Antonia Byatts Roman "Besessen" denken müsste, in dem es just um einen unbekannten Briefwechsel zwischen einem großen Dichter und einer bislang unterschätzten Dichterin geht - und in dem der biographische Memorabilia sammelnde Erfolgsintellektuelle aus Amerika immer den längeren Atem hat als der jedem textkritischen Einwand nachgehende alteuropäische Professor. Constant J. Mews hat in seinem Buch Könsgens Edition nachgedruckt, um eine englische Übersetzung ergänzt und einige Kapitel über "Voices of Héloïse" und die "Politics of Sex" beigegeben. Die Verbreitung seines Werks in deregulierten Geschichtsdepartments, deren Kunden unumwundene Identifikationsangebote erwarten, wird die der philologischen Einwände seiner Opponenten womöglich weit übertreffen.
JAN RÜDIGER
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.05.2004, Nr. 110 / Seite N3]
----------------------------------------------------[Nachtrag 9/2005: Einige Jahre der wissenschaftlichen Diskussion sind nun vergangen, ohne dass bislang eine abschließende Entscheidung über die Verfasserfrage der EDA gefallen wäre - leider. Allerdings wurde inzwischen vielerorten Zweifel an der Mews'schen Hypothese laut, darunter auch aus dem Mund so namhafter Wissenschaftler wie Giles Constable oder Peter Dronke. Etwas verallgemeinernd lässt sich sagen, dass sich die konkurrierenden Lager in etwa nach geographischen Kriterien formiert haben. Während die Skeptiker überwiegend aus dem europäischen Raum kommen, finden sich die Befürworter vorwiegend in der Neuen Welt (Neuseeland, USA, Australien). Umso bedeutender ist es, wenn sich Jan M. Ziolkowski von der Harvard University/Massachusetts in einem wissenschaftlichen Artikel mit schlagenden Argumenten gegen die Urheberschaft Abaelards und Heloïsas plädiert und damit auch gegen einige seiner anglophonen Kollegen:
Jan M. Ziolkowski: Lost and Not Yet Found: Heloise, Abelard, and the Epistolae duorum amantium, in: The Journal of Medieval Latin, Bd. 14, Brepols Turnhout, 2004, S. 171-202.
Der Artikel, den uns Prof. Ziolkowski freundlicherweise überlassen hat, fasst nicht nur in ausgezeichneter Weise den bisherigen Verlauf der Gesamtdebatte einschließlich aller dazugehörigen Argumente und Quellen zusammen, sondern bringt auch die philologischen Schlüsselargumente (mit Beispielen aus den Gebieten der Wortverwendung, Reimprosa, Prosodie und Zitationspraxis). Er widerlegt damit derart zwingend die Autorenschaft Abaelards und Heloïsas, dass sich die Befürworter der Mews'schen Hypothese künftig schwer tun werden, noch etwas entgegenzusetzen. Insofern handelt es sich, wenn auch nicht um ein Schlusswort, so doch um eine echte Vorentscheidung. Am Ende führt der Autor programmatisch in die künftige Diskussion, in derart geistreicher und konzilianter Manier, dass es C. Mews letztendlich möglich sein sollte, einen Widerruf zu wagen. Seiner wissenschaftliche Reputation würde dies jedenfalls in keiner Weise schaden.]