Folgende sechs Klagelieder zu Motiven aus dem Alten Testament stammen aus der Feder Peter Abaelards. Sie finden sich in zwei Manuskripten aus Rom und Oxford, der sechste Planctus in einem weiteren Manuskript aus Paris:
A. Podlech hat in seiner Abaelard-Biographie die Facharbeiten von Meyer, Dronke, Spoerri und von Steinen ausgewertet und mit treffenden Worten die besondere musikhistorische Bedeutung der Planctus beschrieben. Die Reimkompositionen weisen Peter Abaelard auch bezüglich seiner musikalischen Fähigkeiten als einen innovativen Geist aus: Indem er erstmalig den Übergang von der späteren zur jüngeren Sequenz inaugurierte, verschaffte er sich einen weiteren Ehrenplatz - in den Ruhmeshallen der europäischen Musikgeschichte:
Diese Lieder der Not, oben schon angeführt als erster Versuch, die Stäbe des seelischen Käfigs zu zerbrechen, in den er seine Seele gesperrt, die Mauern einzureißen, in die er in seiner Seele Heloïsa eingemauert hatte, diese Lieder der Not reihen ihn unter die Großen der Literatur- und Musikgeschichte ein...
Die Verse des lateinischen Hymnus messen nur Länge und Kürze, bei den Übersetzungen ersetzt nach unserem Sprachgefühl durch Betonung und Unbetonung. Aber schon in der Karolingerzeit brach sich das neue Sprachgefühl Bahn, durchbrach die metrische Strenge des antiken Maßes und schuf sich in der Sequenz eine neue Form. Wurde der klassische Hymnus gedichtet und dann komponiert, so wird die Sequenz von der Melodie geführt, woraus sich ihr Name ergab: versus sequens neumata - Verse, die den Noten folgen...
Eine Bindung an ein Versmaß besteht nicht mehr, die Betonung der Silben und nicht ihre Länge bestimmt den Vers. "Das Silben messende Prinzip wird durch das Sinnbetonende, das Silbenwägende abgelöst" (Th. Spoerri). Dies gestattet eine innige Verschmelzung von Wort, Wortsinn und Melodie. Diese Verbindung findet sich zum ersten Mal in den Planctus des Abaelard. Sie stellen literaturgeschichtlich den Durchbruch zur jüngeren Sequenz dar, "die mit den Versen der Hymnen, vor allem mit den Teilstücken des trochäischen Fünfzehnsilbers immer neue Strophenvarianten erfindet und so zur eigentlichen Keimzelle der modernen Poesie wird. Im 'Stabat mater' und 'Dies irae' Mitte des 13. Jhds. hat die jüngere Sequenz ihren Einzug in die Weltliteratur vollzogen" (Th. Spoerri)...
Zwischen der älteren und der jüngeren Sequenz stehen die Planctus des Abaelard, thematisch dichterische Fassungen auswegloser alttestamentlicher Situationen, dichterisch Lieder in stetem Wechsel der Längen und Rhythmen, musikalisch die innigste Verbindung von Wort und Melodie, die das Mittelalter bis dahin geleistet hatte...
Man muss diese Klagelieder lesen und dann hören und sich vorstellen, wie sie von den Nonnen Heloïsas im Parakleten gesungen wurden, von Instrumenten begleitet, wie der Staccato-Rhythmus Verse und Melodie jagt, wenn es auf den Tod zugeht, und wie der Schmerz in ruhigen, fast stehenden Tönen gesungen wird, ein Schmerz, der nicht enden will, festgefroren ist. Ob die Klagelieder für Heloïsa gedichtet und komponiert wurden oder ob Abaelard in ihnen für sich den Käfig aufbrach, zweckfrei nach außen sozusagen und von innen her eine Befreiung leistend, das wissen wir nicht. Nachdem er Heloïsa den Parakleten geschenkt hatte, übersandte er ihr und ihren Nonnen diese Lieder, und sie werden dort aufgeführt worden sein...
Auszüge aus: Podlech, A., Abaelard und Heloïsa, oder Die Theologie der Liebe, München, 1990, Seiten 231ff.
Die hier wiedergegebenen Texte basieren auf dem vatikanischen Manuskript, wie er in folgenden historischen Ausgaben wiedergegeben ist: Carl Greith, Spicilegium Vaticanum, 1838, Seiten 123ff., Victor Cousin, Petri Abaelardi Opera, Paris 1849, Band 1, 333ff., und J.-P. Migne, Patrologia Latina, Band 178, 1817ff.
PLANCTUS DAVID SUPER ABNER FILIO NER QUEM JOAB OCCIDIT. Abner fidelissime, Quod vis non praevaluit, Nullis dignus fletibus, Multis damnis nos mulctasti, Tandem nostris cedens votis, Milites militiae,
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PETRI ABAELARDI PLANCTUS SUPER DINAE FILIAE JACOB. Abrahae proles Israel nata,
Quid alienigenas juvabat me cernere?
Sichem in exitium
Frustra circumcisio
Coactus me rapere, Non sic censuistis, Innocentes coaequastis Amoris impulsio, Levis aetas juvenilis Ira fratrum ex honore
Miserande juvenis, |
PLANCTUS JACOB SUPER FILlOS SUOS. Infelices filii, Cujus est flagitii Joseph decus generis, Simeon in vinculis Joseph fratrum invidia, Quid sol, quid luna, fili mi, Posterior natu fratribus, Blanditiis tuis miserum Pueriles naeniae Informes in facie Duorum solatia Repraesentans utrosque, Hanc animam, fili mi. Deus, cui servio, |
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PLANCTUS DAVID SUPER SAUL ET JONATHAN. Dolorum solatium, Strages magna populi, Amalech invaluit Insultat fidelibus Infidelis populus; Insultantes inquiunt: Quem primum his praebuit, Saul regum fortissime, Quasi non esset oleo Plus fratre mihi Jonatha, Expertes montes Gelboe, Vae, vae tibi, madida Ubi Christus Domini, Tu mihi nunc, Jonatha, Planctus, Sion filiae, Heu! cur consilio Vel confossus pariter Et me post te vivere Vicem amicitiae Triumphi participem Vitam pro te finiens, Infausta victoria Quam cito durissimus Mortuos quos nuntiat Do quietem fidibus: |
KLAGE DAVIDS ÜBER SAUL UND JONATHAN.
Der Schmerzen Trost Das Hinsterben der Volkes, Amalech ist stark geworden, Die Gläubigen verhöhnt So sprechen sie voll Hohn: Den, den Gott als erstes ihnen gegeben hat, Oh Saul, tapferster der Könige, Wie wenn er nicht die Salbung Oh Jonathan, der du mir näher Ihr Berge von Gilboa, haltet euch fern, Wehe dir, du mit Königsblut Wo ist der Gesalbte des Herrn, Vor allem über dich, mein Jonathan, Stimmt das Klagelied an, Wehe, warum bin ich Wäre ich gleich mit dir gefallen, Und nach dir zu leben, Ich hätte die Freundschaft indem ich dich, als Teilhaber am Triumph und dabei für dich das Leben beende, Dagegen habe ich einen Wie schnell ist die härteste Hochmut verkündet hat, genau Ich setze meinem Saitenspiel ein Ende, |
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PLANCTUS ISRAEL SUPER SAMSON. Abyssus vere multa Virorum fortissimum Quem primum Dalida Exhaustus viribus, Quid tu, Dalida, Nulla gratia Hos cibario Renatis jam viribus, A jocis ad seria, O semper fortium David sanctior, Adam nobile, Quam in proprium Sinum aspidi |
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PLANCTUS VIRGINUM ISRAELIS SUPER FILIA JEPHTAE GALADITAE. Ad festas choreas coelibes Galadithae virgo Jephtae filia Annuos virginum elegos, O stupendam plus quam flendam virginem! Ne votum sit patris irritum, Victor hic de praelio Quam videns et gemens pater anxius Decepisti, filia, Illa refert: Utinam Immolare filium Quod decus sit sexus mei percipe, Sinat te delectio, Hoc est hic crudelitas, Quod ferre non trepidat Sed duorum mensium Sitque legis sanctio His gestis rediit ad patrem unica; Quae statim ingressa balneum, Varias unguenti species Egressa post paululum, O quantis ab omnibus Auro, gemmis, margaritis Rerum pondus et ornatus Mox quem patri detulit, Collatis circa se vestibus 0 mentem amentem judicis, Hebraeae dicite virgines, |
KLAGELIED DER JUNGFRAUEN ISRAELS ÜBER DIE TOCHTER DES JEPHTA AUS GALAAT. Zum Sangesfest, dem ungewöhnlichen, kommt herbei, ihr ledigen Jungfrauen! Die Tochter des Galaatsohnes Jephta, die zum Schlachtopfer ihres Vaters wurde, wollen wir jetzt beklagen! Sie ist der Anlass, dass Jahr für Jahr Jungfrauen ausgewählt werden und fromme Lieder zum Gesang, die wir dem Todesmut der Jungfrau schulden. Ein erstaunliches Mädchen war sie, das man in der Tat mehr bewundern als beweinen muss! Welch seltene Tugend: Sie war ähnlich hart wie ein Mann! Damit das Gelübde des Vaters nicht unerfüllt blieb, und der Herr nicht um das Gelobte gebracht wurde, hat sie durch den Vater das Volk erlöst: So drängt sie ihn in das ihm auferlegte Joch. Als dieser siegreich mit seinem Volk aus der Schlacht zurückkehrt, läuft sie ihm zunächst aus Freude mit der Pauke entgegen. Doch bei ihrem Anblick seufzt der Vater voller Angst. Im Bewusstsein des Gelübdes schlägt seine Freude in Klage um, seiner Leute Triumph verwandelt sich in Trauer. Meine einzige Tochter, sagt er, Abraham wollte einst seinen Sohn opfern, aber er fand nicht die Gnade beim Herrn derart, dass dieser den Knaben von ihm als Opfer annahm. Einen Knaben wies er also zurück; ein Mädchenopfer nimmt er jedoch an! Mache dir klar, welch eine Ehre dies für mein Geschlecht ist! Sieh mich an, die ich eine Frucht deines Schoßes bin. Bedenk doch, welchen Ruhm dir dies einbringt. Sei ein Mann - dem Geschlecht wie dem Mute nach und schreite zur Opfertat! Wehre dich nicht gegen deinem und meinem Ruhm! Wenn du mich deiner Seele vorziehen willst, schädigst du durch schlechtes Beispiel alle! So möge dich die Liebe verlassen und diese zum Herrn führen! Sonst beleidigst du zusammen mit deinen Mannen den Herrn und verlierst diese, weil du dem Herrn missfällst! Dies gilt hier als Grausamkeit. Für den Herrn ist es jedoch Pflichterfüllung. Er würde dir den Sieg nicht geben, wenn er dein Opfer nicht wollte. Löse also deine Schuld ein, Vater, und besänftige den Herrn, ehe am Ende nicht mehr erlaubt ist, was vorher wohlgefällig war. Wovor das zarte Mädchen nicht zurückschreckt, es zu ertragen, das soll die Rechte des Mannes ruhig vollstrecken. Dies ist die eigentlich bindende Verpflichtung des Gelübdes! Aber gewähre mir noch zwei Monate Zeit. Danach sei das Gesetz vollzogen, und es gereiche mir zum Fluch, wenn das Opfer meines reinen Fleisches dann nicht zur Heilung dient - mein Fleisch, welches keinen Schmutz und keinen Makel kennt. Umringt vom Reigen der Mädchen steigt sie ins Bad. Erschöpft wärmt sie sich ein bisschen, und das Bad reinigt ihren Körper, der schmutzig ist vom Staub und matt von der strapaziösen Wanderung. Verschiedene Sorten von Salben in vergoldeten Dosen bringen die weinenden Mädchen. Die einen salben sie damit ein, die übrigen legen ihr das Haar, um sie für den Herrn zu bereiten. Nach kurzer Zeit tritt das Mädchen aus dem Badezimmer und schickt dem Vater eine Botschaft. Er solle den Scheiterhaufen schlichten und das Feuer entzünden, während sie sich als Opfer herrichtet, Ach, mit welchen Weheklagen nimmt der Vater die Botschaft entgegen! Aber als Feldherr drängt er das Volk, dies schnell zu besorgen, und jene wiederum drängt die Mädchen, sie zu schmücken, als ob sie im Tode sich vermählen wolle. Die eine Zofe reicht den Battist, reichlich benetzt von den eigenen Tränen, die andere den Purpur, nass von ihrem Weinen. Man legt ihr die mit Gold, Edelsteinen und Perlen verzierte Halskette um, so dass sie die Brust ziert und daher umso mehr zum Schmuck gereicht. An die Ohren hängen sie Ringe, mit Armbändern aus Gold beladen sie den schwachen Körper der Jungfrau. Kaum noch erträgt das Mädchen das Gewicht der Kleider und des Schmucks und die Zeit wird ihr zu lang. Sie erhebt sich schließlich aus dem Bett und weist alle Bleibenden mit folgenden Worten zurecht: Für eine Braut ist es vielleicht genug, für eine Todgeweihte jedoch zuviel! So reißt sie alsbald das blanke Schwert an sich, das der Vater verborgen hielt: Was sollen wir noch mehr, noch weiter sagen, was nützt uns das Weinen und Wehklagen? Singen wir das Klagelied bis zum bitteren Ende, dem wir dennoch nicht entgehen! Sie rafft ihre Gewänder zusammen, steigt auf die Stufen des brennenden Altares empor, reicht selbst das Schwert: Dann kniet sie nieder und lässt sich töten. Oh wahnsinniger Verstand des Richters! Ihr Hebräermädchen, singt
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