Als Abaelard kurz nach seinem Klostereintritt in Saint-Denis einerseits einen unerwarteten Zulauf an Schülern erfuhr, andererseits mit der Enge der Klostermauern und der Missgunst seiner Mitbrüder nicht zurechtkam, ergriff er um 1120 quasi die Flucht und begab sich hinüber in die Champagne, in eine "Zelle", d. h. ein kleines Priorat seines Ordens namens Sainte-Marguerite, auf dem heutigen Gemeindegebiet von Maisoncelles-en-Brie. Nachdem er dort seine Lehrtätigkeit wieder aufgenommen hatte, sollen einige tausend Studenten ihn aufgesucht haben, so dass schon nach kurzer Zeit weder das dortige Raumangebot noch die Nahrungsmittel reichten:
Da nun jene mir unaufhörlich zusetzten und zudringlich bei mir anklopften, auch der Abt und die Brüder sich einmischten, zog ich mich in eine "Zelle" zurück, um meine gewohnte Lehrtätigkeit wiederaufzunehmen. Hier strömte nun eine solche Menge von Schülern zusammen, dass weder der Raum für Quartiere noch das Land für Nahrungsmittel ausreichte. [1]
So entwich ich...heimlich bei Nacht und flüchtete in das angrenzende Gebiet des Grafen Theobald, wo ich früher in einer kleinen Niederlassung gelebt hatte. [2]
Der Name des Ortes leitet sich übrigens nicht etwa von "mansiunculae" oder "domunculae", d.h. "kleine Häuser" ab, wie bisweilen vermutet. Chaffault gab als etymologische Erklärung an: "cellae Mesunti". Mit Mesuntum ist der Wald von Mans gemeint. [4] Maisoncelles heißt demnach: Mönchszellen im Wald von Mans. Es finden sich heute in Frankreich zahlreiche Orte namens Mans und allein 12 Gemeinden mit dem Namen Maisoncelles und Varianten.[5] Dass sich in Maisoncelles-en-Brie die besagte Dependance des Klosters Saint-Denis befand, belegen u. a. Urkunden aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Folgende frühe Zeugnisse erwähnte Chaffault in seiner Histoire de Mesoncelles: Urkunde der Gräfin Adele vom 3. Juli 1107, Urkunde des Grafen Theobald von 1132, Urkunde des Grafen Heinrich von 1152, Erwähnung eines Robert von Mesoncelles in einer Urkunde von 1220, Zehnter von Mesoncelles, erwähnt im Jahre 1221, Urkunde des Grafen Theobald von 1222, Nennung der Pfarrei Mesoncelles in einer Urkunde des Bischofs von Meaux von 1249, Erwähnung eines Wilhelm von Mesoncelles im Jahre 1294 u.a. [6]
Wie Chaffault ebenfalls berichtet, hat sich in Maisoncelles-en-Brie bis zum vorigen Jahrhundert eine lokale Tradition erhalten, welche von einem Besuch Heloïsas in Maisoncelles berichtet:[7]
Heloïsa habe sich von Argenteuil aus zu Fuß auf den Weg gemacht. Ihre Route habe über den Frauenkonvent von Aubervilliers geführt, wo sie die erste Nacht verbrachte. Die folgende Nacht habe sie - eine Wegstunde vor Lagny entfernt - an einem Wegkreuz, welches eine Abzweigung nach Chelles bezeichnete, erschöpft im Freien übernachtet. Von Lagny aus sei sie schließlich zum Konvent von Faremoutiers im Brie weitergezogen, wo sie von der dortigen Äbtissin gastlich aufgenommen wurde. Am darauffolgenden Abend sei sie schließlich in Maisoncelles eingetroffen. Frierend habe sie nach dem Meister verlangt, der gerade beim Unterricht weilte. Als Abaelard Heloïsa sah, habe er sie lange in stummer Rührung angeblickt und dann nach draußen geführt. Es folgte eine ausgiebige Aussprache unter vier Augen. Schließlich seien sie an den Teich des Priorats gelangt, der noch heute erhalten ist, und hätten für kurze Zeit aus Verzweiflung über ihre Lage ins Auge gefasst, dort den Freitod durch Ertrinken zu suchen ...
Hier bricht die Sage ab. Weder berichtet sie, warum die Tat nicht zur Ausführung kam, noch, wie lange Heloïsa in Maisoncelles blieb. Abaelard soll seine Vorlesungen bald wieder aufgenommen haben.
Obwohl es sich um eine der typischen, romantisierend-kitschigen Erzählungen aus der Zeit der Wiederentdeckung der Liebesgeschichte handelt, war uns diese Geschichte wegen der erwähnten Ortsangaben nicht uninteressant. Heloïsa habe bei Aubervilliers, Chelles, Lagny und Faremoutiers - letzteres nur einige Kilometer südlich von Maisoncelles gelegen - Zwischenstation gemacht. Sämtliche Orte bezeichneten bereits damals alt-etablierte Konvente; die erwähnte Reihenfolge beschrieb eine plausible Reiseroute. So lag der erste Marneübergang vor Paris in der Tat in Lagny.
Im Totenbuch des Paraklet, der gemeinsamen Klostergründung Heloïsas und Abaelards, fanden sich für die meisten dieser Orte Einträge für Gedenkfeiern.
Über die weitere Geschichte des Ortes ist wenig bekannt. Unter dem berühmten Abt Suger von Saint-Denis (+ 13.1.1151) soll der Neubau des Priorates Sainte-Marguerite "aux celles de Meson" in Angriff genommen worden sein. Die weitere Geschichte des Priorates liegt weitgehend im Dunkel. Später ist vor Ort ein Landsitz nachweisbar, der dem Kloster Saint-Denis unterstand und den ortsansässigen Benediktinern den notwendigen Schutz gewährte. Er entsprach jedoch vermutlich nicht der Örtlichkeit des ehemaligen Priorats (siehe oben). Im 17. Jahrhundert ist sogar von einem Schloss, Château de Mesoncelles, die Rede. Nach der Französischen Revolution, in welcher die meisten Besitzurkunden vernichtet wurden, fiel das Schloss in bürgerliche Hände und verfiel, wurde jedoch später nochmals aufgebaut. Die Zugehörigkeit zu Saint-Denis war noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als Chaffault seine Histoire de Mesoncelles schrieb, an den Initialen S. D. an der Pforte des Schlossbesitzes - d.h. Saint-Denis - erkennbar.
Maisoncelles-en-Brie ist heute eine kleine ländliche Gemeinde - zwischen Meaux und Provins in der flachen und wenig markanten Landschaft des Brie gelegen. Trotz der Nähe zur Touristenattraktion "Disneyworld" an der Autobahn Metz-Paris hat der Ort seine idyllische und ruhige Lage bewahrt. Die heutige Kirche geht in einzelnen Bauteilen bis ins 13. Jahrhundert - und damit fast bis in die Zeit Abaelards - zurück. Dies ist u.a. an dem wuchtigen Stützwerk an der Außenseite erkennbar. Die Kirche ist den Heiligen Sulpicius und Dionysius geweiht und soll einst durch einen unterirdischen Gang mit dem Schloss verbunden gewesen sein. Leider führt heute zwischen dem ehemaligen Schlosskomplex und der Kirche die Durchgangsstraße hindurch.
Das Schloss selbst ist vom Erdboden verschwunden - vermutlich wurde es in einem der beiden Weltkriege zerstört oder fiel wegen Baufälligkeit der Spitzhacke zum Opfer. Die Straße, die um den ehemaligen Schlosspark herumführt, wurde nach Abaelard und Heloïsa benannt: Rue du château d'Abélard et d'Heloise. Die vormals zum Schloss gehörige Landwirtschaft, la ferme du château, existiert noch, auch der teilweise verwilderte Park mit Teilen der Umfassungsmauer und dem besagten, vormals hufeisenförmigen Schlossteich. Im Jahre 1848 soll sich dort ein Liebespaar, dem die Heirat versagt worden war, gemeinsam ertränkt haben.[10] Eine traurige Reminiszenz an Heloïsa und Abaelard?
Nicht zum Mönch hat ihn Gott bestimmt, sondern zum Lehrer. In der Figur mittelalterlicher Bescheidenheit gab er dem ungestümen Drängen der Studenten, seines Abtes und der anderen Mönche nach, nicht ohne anzudeuten, dass die letzteren froh waren, ihn los zu sein. Er verließ das Mutterkloster und zog in eine zu Saint-Denis gehörende Einsiedelei. Einer alten Überlieferung zufolge war es das Priorat Maisoncelles, einige Meilen nördlich von Provins und unmittelbar hinter der Grenze zwischen Franzien und der Champagne, wo damals der mächtige Graf Theobald IV. residierte. Dort lehrte er, und der Andrang der Studenten wurde so groß, "dass alle unterzubringen und zu verpflegen nicht möglich war". Es bot sich das gewohnte Bild: Wo Abaelard sich aufhielt, drängten sich die Schüler um ihn. [12]
Einige Kilometer nördlich von Maisoncelles liegt das Dorf Quincy-Voisins. Der Lokalhistoriker Gérard Mourlet, der in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts an der Ortsgeschichte von Quincy-Voisins arbeitete, berichtet von der Erzählung einer gewissen Madame D... Germaine, dass das in der Nähe stehende "croix de Ségy" einen Ort bezeichne, wo sich einst ein Konvent befunden habe, bei dem sich Abaelard zurückgezogen habe. [13] Ségy ist ein Weiler bei Quincy-Voisins, in Richtung Maisoncelles gelegen (Distanz ca. 9,2 km). Näheres über einen dort gelegenen Konvent ist nicht bekannt.
[1] Historia Calamitatum, in: Hicks, E., La vie et les epistres Pierres Abaelart et Heloys sa fame, Paris 1991, Seite 20.
[2] A.a.O., Seite 28.
[3]
Ersterwähnung durch Dom Michel-Jean-Joseph Brial, in Delisle, L. (ed.)
Recueil des Historiens de France, Band XIV, Paris, 18?, Seite 290,
aufgegriffen von Remusat (Rémusat, Ch. de, Abélard, Paris 1845, Band 1,
Seite 73) und anderen Autoren (De Besce). Remusat nannte neben
Maisoncelles-en-Brie auch einen gleichnamigen Ort bei Villiers
Saint-Georges, und hielt diesen Ort als Fluchtort Abaelards für
wahrscheinlicher, da es näher an Provins lag. Wir schließen uns dieser
Meinung nicht an, da Abaelard dann auf jeden Fall hätte Zwischenstation
machen müssen, was sicher nicht seine Absicht gewesen sein dürfte.
Nähere Angaben zum Priorat Sainte-Marguerite finden sich auch auf der
Internetseite der ACPA in Le Pallet, gestaltet von unserem Freund Henri
Demangeau. Siehe auch http://www.pierre-abelard.com/itin-maisoncelles.htm .
[4]
Chaffault, Gabriel du, Histoire de Mésoncelles-en-Brie, 1894, Reprint
Paris, 1992, Seite 1f. Der Name Brie kommt von keltisch briga = Höhe,
oder braum = fruchtbares Land.
[5]
62310 Maisoncelle, 08450 Maisoncelle-et-Villers, 60112
Maisoncelle-Saint-Pierre, 60480 Maisoncelle-Tuilerie, 52240
Maisoncelles, 72440 Maisoncelles, 53170 Maisoncelles-du-Maine, 77580
Maisoncelles-en-Brie, 77570 Maisoncelles-en-Gatinais, 14500
Maisoncelles-la-Jourdan, 14310 Maisoncelles-Pelvey, 14210
Maisoncelles-sur-Ajon. All diese Ortsnamen gehen auf das frühe
Mittelalter zurück, siehe z.B.: Urkunde aus der Gegend von Le Mans
zugunsten Marmoutiers: "...Gauslini de mesoncellis...Garnaldi de
mesoncellis qui eamdem decimam in vadimonio tenebat...", in: Laurain,
Ernest, Cartulaire Manceau de Marmoutier, Tome I, Laval, 1911, Seite
474.
[6] Siehe Chaffault, a.a.O., Seite 70ff.
[7] A.a.O., Seite 36ff.
[8]
Siehe: Obtuaire latin du Paraclet, in: Boutillier du Retail et
Piétresson de Saint-Aubin, Recueil des historiens de la France,
Obituaires de la province de sens, IV, Diocèse de Meaux et e Troyes,
Seite 386ff.
[9]
Einträge aus dem Totenbuch der Abtei Chelles: "XVII kal. junii. Ob.
...Heluidis, prima Paracliti abbatissa, et Heluidis monialis - 16. Mai:
Todestag Heloïsas, der ersten Äbtissin des Paraklet, und einer Nonne
gleichen Namens." Und: "VI idus. Commemoracio fratrum et sororum Sancti
Paracliti, pro quibus vigiliam et commendacionem atque missam facere
debemus - 10. Juli: Gedenken an die Brüder und Schwestern des Heiligen
Paraklet, für die wir eine Vigilie, eine Andacht und eine Messe halten
müssen." Aus: Molinier, A., Obituaires de la Province de Sens, Tome I,
Diocèses de Sens et de Paris, Paris, 1902, Seiten 367, 371 und 383. Der
Männerkonvent von Lagny vermerkte wiederum Abaelard in seinem
Totenbuch. Obwohl nur noch ein winziges Fragment überliefert ist, lesen
wir dort: "MCXLIII, XI kal. maii. Obiit Petrus Abaelardus - Am 21.
April 1143 starb Peter Abaelard." Aus: Molinier, A., Obituaires de la
Province de Sens, Tome I, Diocèses de Sens et de Paris, Paris, 1902,
Seite 387. Die ausführliche Datumsangabe einschließlich Jahreszahl, die
im Übrigen falsch ist, stammt wohl von einer späteren Transskription!
[10] Siehe Chaffault, a.a.O., Seite 152.
[11] Chaffault, a.a.O., Seite 156.
[12] Podlech, A., Abaelard und Heloïsa, München 1990, Seite 121.
[13] "Madame D... Germaine nous signale que la croix de Ségy serait posée à l'emplacement même d'un couvent et Abélard serait venu s'y reposer..." Abélard en Seine-et-Marne ou la patrimonialisation d'une erreur historique, Blog von Mickael Wilmart, 20. Oktober 2009.