- Online-Buch im PDF-Format, 187 Seiten DIN A 4, Version Juli 2003 -
© Dr. Werner Robl, Mai 2003
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Probleme der Datierung eines Ketzerprozesses
Etappen eines Ketzerprozesses
Neue Chronologie eines Ketzerprozesses |
Die Diskussion um den Konziltermin von Sens und den Ablauf des Prozesses gegen Peter Abaelard ist im Grunde genommen über 800 Jahre alt. Schon die Chronisten des 12. Jahrhunderts schwankten zwischen dem Konzilsjahr 1140 und 1141, desgleichen einige namhafte Kirchenhistoriker der beginnenden Neuzeit. Eine am Ende des 19. Jahrhunderts mit spitzer Feder geführte Auseinandersetzung zwischen dem Abaelard-Forscher und Theologen S. M. Deutsch aus Berlin und seinem französischen Kollegen, dem Bernhard-Experten E. Vacandard aus Rouen, fiel, was den literarischen Nachhall anbelangte, zugunsten des letzteren aus: Das Konzilsjahr 1140 wurde sozusagen festgeschrieben und bis in jüngste Zeit in zahlreichen Biographien und sonstige Publikationen übernommen. Erst zu Beginn des neuen Jahrtausends ging C. Mews unter kritischer Wertung der historischen Argumente S. M. Deutschs und E. Vacandards und Hinweisen aus der italienischen Mediävistik der Datierungsfrage nach und kam zu dem Aufsehen erregenden Schluss, dass die Datierung des Prozesses in das Jahr 1140 keinesfalls aufrechterhalten werden kann: Sowohl das Konzil von Sens als auch das nachfolgende Revisionsverfahren am Heiligen Stuhl, welches mit der päpstlichen Verurteilung Peter Abaelards als Ketzer endete, muss 1141 stattgefunden haben.Bei diesem Stand einer zyklisch erneuerten Debatte um die späten Jahre Peter Abaelards setzt die vorliegende Studie an: Sie stellt sich die Aufgabe, nicht nur die bis dato bekannten Quellen und Datierungstheorien ihrerseits zu sichten und zu werten, sondern auch, weitere Entscheidungskriterien für eine Umdatierung zu erschließen und diese quellenmäßig abzusichern, so z. B. durch die Analyse des Verfahrens aus der Sicht von Papst und Kurie in Rom oder durch eine vergleichende Biographik relevanter Zeitgenossen, wie Stephan von Garland, Stephan von Senlis, Nikolaus von Montiéramey oder Gilbert de la Porrée. Am Ende sollte es möglich sein, die Eckdaten des Prozesses gegen Abaelard eindeutig zu definieren.
Es folgt zunächst eine zusammenfassende Übersicht der Resultate:
Eingangs werden die für Peter Abaelards Verurteilung ausschlaggebenden Zentraldokumente - eine Bulle und ein privater Justizbrief des Papstes Innozenz II., welche im Juli eines ungenannten Jahres im Lateranspalast in Rom erlassen wurden - im lateinischen Original vorgestellt und werksgeschichtlich eingeordnet.
Aus der Tatsache, dass Bernhard von Clairvaux einen Brief gegen Peter Abaelard an den Kardinalbischof Stephan von Praeneste gerichtet hatte, und dieser Kardinalbischof höchstwahrscheinlich erst zu Ostern 1141 ins Amt kam, hatte der italienische Paläograph R. Volpini darauf geschlossen, dass der Prozess gegen Abaelard im Jahr 1141 noch in vollem Gang war. Der Sachverhalt war in allen früheren Studien schlichtweg übersehen worden, klärte allerdings per se noch nicht den Auftakt des Verfahrens und den Konzilstermin von Sens. Anhand weiterer Dokumente des Heiligen Stuhls überprüften wir die Ernennungspraxis des Papstes Innozenz in den suburbikaren Bistümern und konnten zuletzt Volpinis Hypothese bezüglich des Amtsantritts Stephans von Praeneste in vollem Umfang bestätigen: Die Sache Abaelards wurde in Rom also nach Ostern 1141 verhandelt!
Wie die Papstregesten erweisen, weilten in den Kriegssommern 1138 bis 1140 Papst Innozenz II. und die Kurie ausschließlich außerhalb Roms resp. des Lateranpalastes: 1138 im Feldlager vor Albano, 1139 in Gewahrsam Rogers II. bei Mignano und 1140 in Rückzugsstellung in Trastevere am rechten Ufer des Tibers. Somit konnte in keinem dieser Jahre das schriftliche Urteil gegen Peter Abaelard erlassen worden sein, denn die Urkunden, die von Monat Juli datieren, wurden beide im Lateran - Datum Laterani - ausgefertigt! Es bleibt zu ergänzen, dass während der Amtszeit Innozenz’ II. Papst und Kanzlei auch im Felde immer und ausschließlich eine Einheit bildeten. Mit diesen Erkenntnissen kann nicht nur die traditionelle Datierung E. Vacandards, sondern auch eine andere, erst jüngst geäußerte Alternativdatierung für das Jahr 1138 - zumindest für den Teil, der die päpstliche Verurteilung Abaelards betrifft - ad acta gelegt werden. Gleichzeitig ergibt sich der Rückschluss, dass bereits in der Erstedition der Papstbullen durch C. Baronius, die wohl der Gesta-Tradition Ottos von Freising folgte, Transskriptionsfehler vorlagen, vor allem, was den dort wiedergegebenen Adressaten, Erzbischof Rainald von Reims, gestorben im Januar 1139, anbelangt.
Die einzige bis dato bekannte, unabhängige Quelle, die auf das Konzil von Sens direkt Bezug nimmt und aufgrund einer indirekten chronologischen Angabe die Berechnung des Konzilsjahrs 1141 erlaubt, ist eine Mirakelgeschichte über die Erscheinung des Heiligen Eleutherius in der nordfranzösischen Stadt Tournai. Wie die vorliegende Recherche belegt, wurde diese Geschichte im betreffenden Jahr von den Tornacensern und Bernhard von Clairvaux in besonderer Weise politisch instrumentalisiert, um die Wiedergründung des Bistums Tournai am Heiligen Stuhl durchzusetzen. Von daher erweist sich die Wundermär trotz aller Unabwägbarkeiten des Erzählkerns in ihrem Datumsdetail als eine äußerst präzise und folgerichtige Quelle. Zwei weitere zeitgenössische Dokumente - ein Chronikeintrag für den Konvent Saint-Pierre-au-Mont-Blandin in Ostflandern und ein überliefertes Vaticinium des Heiligen Eleutherius - bestätigen die Datierung 1141.
Dagegen lassen sich sämtliche von E. Vacandard für das Ereignisjahr 1140 ins Feld geführten Argumente problemlos entkräften: Weder die von ihm herangezogene Continuatio Praemonstratensis, eine Ergänzung zur Chronik des Siegbert von Gembloux, noch die Chronik von Vaucelles erweisen sich in ihren Jahresangaben und im Ablauf der geschilderten Ereignisse als zuverlässig. Im Übrigen wurde der Prior von Clairvaux, Gottfried von Péronne, der nach Ansicht E.Vacandards einige Monate nach dem Konzil von Sens, im zeitigen Frühjahr 1141, auf den Bischofstuhl von Tournai berufen worden sein soll, nachweislich nicht in diesem, sondern erst im Jahr 1146 für das Bischofsamt vorgeschlagen.
Ein weiteres, gewichtiges Argument gegen eine Datierung des Konzils von Sens in das Jahr 1140 ergibt sich aus einem zeitgenössischen Bericht zum Reliquienfest der Heiligen Rictrudis in Ronchin bei Lille, welches am 29. Mai 1140 stattfand. Der bei diesem Fest anwesende Mitankläger Abaelards in Sens, Bischof Alvisius von Arras, hätte innerhalb von drei Tagen zum Konzil am Oktavtag von Pfingsten anreisen müssen, was bei einer angenommenen Reisestrecke von 330 bis 345 Kilometern und den damals üblichen Tagesetappen von ca. 30 bis 50 Kilometern eine Unmöglichkeit darstellt.
Dagegen ist es möglich, aus dem Briefwechsel zwischen Abt Petrus Venerabilis von Cluny und Bischof Hatto von Troyes, einem weiteren Konzilsteilnehmer, abzuleiten, dass das Treffen von Sens nicht, wie einst von G. Constable vermutet, im Jahr 1140, sondern wirklich erst 1141 stattfand: Der Quellenlage nach reiste der als Kurier eingesetzte Kaplan von Troyes, Nikolaus von Montiéramey, in diesem Jahr zweimal zum Heiligen Stuhl: Das erste Mal im zeitigen Frühjahr als Bote seines Bischofs bezüglich der Schenkung einiger Kirchen bei Sézanne-en-Brie an den Orden von Cluny, das zweite Mal Ende Mai, unmittelbar nach dem Konzil, im Auftrag der Bischofskonferenz und Bernhards von Clairvaux. Im späteren Briefwechsel des Nikolaus von Montiéramey finden sich anschauliche Reminiszenzen an diese Reisen, z. B. die Übersteigung der vergletscherten Alpen. G. Constable war zu Unrecht von einer einzigen Romfahrt und von einer Anreise im Herbst 1140 ausgegangen. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass die beantragte Schenkung Hattos zugunsten des Ordens von Cluny, in den er später einzutreten gedachte, exakt am selben Monatstag, einem 16. Juli, im Lateran ratifiziert wurde, wie die beiden Urteilsbriefe gegen Peter Abaelard. Es handelt sich hier um den einzigen Fall von Datumskoinzidenz bei den insgesamt spärlichen Sommerurkunden des Papstes. Angesichts dieser frappierenden Entsprechung steht nicht nur fest, dass in der Tat Nikolaus von Montiéramey der gemeinsame Kurier zum Heiligen Stuhl war, sondern auch, dass das Jahr der diplomatischen Reisen kein anderes als 1141 gewesen sein kann.
In der Quintessenz dieser Befunde ergeben sich die folgenden chronologischen Eckdaten:
Peter Abaelards Schriften wurden am 25. Mai 1141 auf dem Konzil von Sens verurteilt, währenddessen ihr Verfasser am nachfolgenden 16. Juli in Rom vom Papst „einem Ketzer gleich“ zu Klosterhaft und ewigem Schweigen verurteilt wurde - zusammen mit seinem Sympathisanten Arnold von Brescia. Wenn man die erforderlichen Brieflaufzeiten und die damals übliche Verzögerung bis zur Ausstellung der Bullen in Abzug bringt, ergibt sich der Schluss, dass Peter Abaelard quasi in einer Art von Schnellverfahren, welches kaum mehr 14 Tage beanspruchte, abgeurteilt wurde. Dieses Vorgehen lässt - in Anbetracht der Gewichtigkeit des Vorwurfs und der komplizierten theologischen Sachverhalte, um die es ging - doch einige Oberflächlichkeit und Voreingenommenheit des päpstlichen Gerichts vermuten. Der beschleunigte Verfahrensablauf findet sich übrigens in der Apologie des Abaelard-Schülers Berengar von Poitiers verbatim bestätigt. Der hier erschlossene Zeitrahmen bestätigt im Wesentlichen die historischen Forschungsergebnisse S.M Deutschs aus dem Jahr 1880 und begründet zugleich die Notwendigkeit, nun auch Vor- und Nachspann der Invektive gegen Abaelard zu hinterfragen.
Aus der Fülle des Stoffs, der sich zu den letzten Lebensjahren Peter Abaelards und seinem Konflikt mit der französischen Orthodoxie ergibt, sollen im Folgenden nur diejenigen Punkte herausgegriffen werden, welche in eine neue Richtung weisen und deshalb geeignet sind, das traditionelle Abaelard-Bild zu modifizieren:
Wahrscheinlich hat Abaelards Verlassen des Genovefabergs, welches von Johann von Salisbury für den Zeitraum 1137/1138 referiert wird, nicht allein mit dem Machtverlust seines früheren Mentors Stephan von Garlande nach dem Tod König Ludwigs VI. zu tun, sondern auch mit Abaelards Lehrtätigkeit an der Kirche Saint-Hilaire. Nach Sichtung einiger Quellen steht fest, dass Saint-Hilaire, eine Pfarrkirche an der Nordflanke des Genovefaberges, zu dem südöstlich gelegenen Säkularkanonikerstift Saint-Marcel gehörte. Vermutlich zog Abaelard mit seiner Schule dorthin um, weil er hier bessere Lehrbedingungen vorfand als am Genovefastift selbst. Saint-Marcel hatte dem Dafürhalten nach eine eigene Lehrtradition: Der damalige Dekan des Stifts könnte nach einigen Indizien kein anderer gewesen sein als der berühmte Gilbert de la Porrée, einst selbst ein „dialektischer Theologe“ wie Peter Abaelard und nachweislich dessen persönlicher Bekannter. Gilbert, der Paris im Jahr von Abaelards Verurteilung verließ, um im Folgejahr Bischof von Poitiers zu werden, wurde sieben Jahre später wie Abaelard von Bernhard von Clairvaux wegen Trinitätshäresie vor ein Konzil zitiert!
Abaelards Umzug nach Saint-Hilaire erscheint dennoch etwas eigenartig, da er sich damit in die direkte kirchenrechtliche Aufsicht des Pariser Bischofs Stephan von Senlis begab, der als hyperorthodoxer „Hardliner“ und Förderer victorinischen Geistesgutes bekannt war. Das scheinbare Paradoxon löst sich vor dem Hintergrund auf, dass sich der Pariser Bischof alsbald wegen eines wie auch immer gearteten Gebrechens in das Stift Saint-Victor zurückzog und spätestens ab 1139 seine öffentlichen Aufgaben und Pflichten vernachlässigte. Durch diese faktische Sedisvakanz in Paris könnten gerade „Modernisten“ wie die Theologen Peter Abaelard und Gilbert de la Porrée an einem kleinen Stift die für ihre Methodik und Lehrinhalte notwendige Freiheit gefunden haben. Selbst einem Agitator wie Arnold von Brescia, der nach Abaelards Weggang in Saint-Hilaire gegen die Besitzansprüche des verderbten Episkopats wetterte, dürfte dieser Umstand noch zugute gekommen sein. Der frühe Rückzug des Pariser Bischofs, lange vor seinem Tod am 29. Juli 1142, erklärt auch, warum gerade seine Unterschrift neben derjenigen Fromonds von Nevers auf den Konzilsdokumenten von Sens fehlt, obwohl gerade Stephan als der für Abaelard zuständige Ortsbischof dort eine bedeutsame Rolle gespielt haben sollte.
Was den Pariser Archidiakon und Dekan von Sainte-Geneviève, Stephan von Garlande, und seine Haltung gegenüber Peter Abaelard in diesen späten Jahren angelangt, so muss aufgrund der Quellenlage das durch R.H. Bautier im Jahr 1979 geförderte Freund-und-Beschützer-Klischee endgültig aufgegeben werden: Stephan von Garlande scheint - ganz im Gegensatz zu seiner früheren Glanzzeit am Königshof - bis zu seinem Tod am 2. Juni 1147 einen zunehmend reform- und papstfreundlichen Kurs eingeschlagen zu haben, der ihn sogar in die Nähe seines ehemaligen Widersachers Bernhard von Clairvaux brachte. Diesen Kurswechsel reflektieren ein Brief Bernhards von Clairvaux und eine Anekdote, die weiter unten noch zur Sprache kommen wird.
Um die Rahmenbedingungen des Prozesses gegen Peter Abaelard in Sens besser zu verstehen, muss man die aufgeheizte Stimmung in den französischen Städten am Vorabend des Ereignisses ebenso ins Kalkül ziehen wie die zunehmende politische Instabilität, die sich aus folgenden Ereignissen des Jahres 1141 ergab: die königliche Strafexpedition nach Aquitanien, die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen dem französischen König und Papst um die Wiederbesetzung der Bischofsstühle von Poitiers und Bourges und der Skandal um die Scheidung des königlichen Truchsesses Rudolf von Vermandois. Diese Krisen führten zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen Papst und Krone und induzierten letztendlich einen mehrjährigen, verlustreichen Krieg. Das Konzilsereignis von Sens stellt sich hier als der absolute Endpunkt einer politischen Schönwetterlage dar, als ein Treffen, auf dem der König und die Kirchenführung der Franzia zum letzten Mal einmütig vereint erscheinen, um sich anlässlich der geplanten Reliquienschau dem Volk in ihrer Machtfülle zu präsentieren. Angesichts der schwierigen politischen Probleme, die es dort zu verhandeln galt, dürfte die Diskussion der Theologie Peter Abaelards eher zur Nebensache geraten sein. Einige der auf dem Konzil anwesenden Fürsten, vor allem die Grafen der Champagne und von Nevers, lassen sich übrigens kurz vor dem Konzilstag im Süden der Krondomäne zusammen mit König Ludwig VII. im Feldlager bei Janville orten, womit erneut auf das Jahr 1141 als Konzilsjahr verwiesen ist.
Bei der Analyse des Konzilsverlaufs selbst treten weitere Datierungs- und Interpretationsprobleme zu Tage: Da einige Quellen für eine zweizeitige Verurteilung Abaelards sprechen und damit ein zweitägiges Ereignis reflektieren, wurde vereinzelt die Ansicht geäußert, dass die eigentliche Konzilsversammlung entsprechend dem Usus von Generalkonzilen erst am Montag, den 26. Mai 1141, stattgefunden habe. Dem darf man zunächst entgegenhalten, dass die Versammlung von Sens allenfalls den Maßstab einer Landessynode, aber nicht den eines mehrtätigen Generalkonzils erfüllte. Außerdem erwähnen einige Textsstellen recht eindeutig den Oktavsonntag von Pfingsten als den eigentlichen Konzilstag. Vielleicht liegt die Lösung der inneren Widersprüche darin, dass hohe Festtage im Mittelalter grundsätzlich schon am Vorabend, meist zur Vesperstunde (nach frühchristlichen Verständnis zu Beginn des neuen Tages) oder sogar noch früher, am Nachmittag, mit einem feierlichen Eröffnungsgottesdienst eingeläutet wurden. Für diese Sicht spricht auch Berengars satirische Beschreibung eines Abendbanketts, auf welchem Abaelards Lehren bei einem Trinkgelage vorverurteilt wurden. Die Verkündigung des Urteils hätte demnach am nächsten Tag, in der auf Hochamt und Reliquienaussetzung folgenden Sonntagsversammlung stattgefunden. Dennoch müsste man beide Termine auf ein- und denselben Tag beziehen!
Die Appellation Peter Abaelards an den Heiligen Stuhl erscheint vor dem Hintergrund, dass Papst Innozenz II. zuvor durch eine Reihe von Einzelentscheidungen zu Ungunsten der Länderepiskopate die Chancen eines derartigen Appells erhöht hatte, nicht als eine emotionelle Kurzschlussreaktion, wie sie Gottfried von Auxerre, der übrigens kein Augenzeuge war, uns glauben macht, sondern als eine reife und überlegte Handlung. In Zusammenhang mit diesem Appell werden einige Dokumente vorgestellt, die bislang bei der Wertung des Prozesses gegen Abaelard keine Berücksichtigung fanden. Papst Innozenz scheute zum Beispiel nicht davor zurück, selbst Metropoliten ihres Amtes zu entheben, wenn er durch sie das Appellationsrecht missachtet oder gar gebrochen sah. Solches war gerade dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz von Sens, Heinrich dem Eber, in einem der Vorjahre widerfahren. Die Bischöfe mussten also bei der Verurteilung Abaelards äußerste Vorsicht walten lassen: So beschränkten sie sich auf eine Verurteilung der inkriminierten Lehrsätze, ließen jedoch die Person unbeschadet.
Unter Berücksichtigung des neu erschlossenen Zeitrahmens ist es möglich, auch die Briefe Bernhards von Clairvaux, die er in der Causa Abaelard an einzelne Kurienkardinäle schrieb, einer Neubewertung zu unterziehen. Die Schreiben, die sich, in zwei Gruppen getrennt, in den beiden aus dem 12. Jahrhundert stammenden Briefsammlungen des Abtes wiederfinden, erscheinen nun nicht nur aus manuskriptologischen, sondern auch aus inhaltlichen Gründen als zwei in sich geschlossene, relativ homogene Corpora, jeweils vor und nach dem Konzil von Sens verfasst. Unter den Adressaten findet sich mit Kardinal Guido von Florenz insofern ein interessanter Mann, als er neben Hyazinth Bobo und Guido von Cittá di Castello ein weiterer Sympathisant Peter Abaelards an der Kurie in Rom gewesen sein könnte: Guido von Florenz betrieb als einziger Kurienkardinal Dialektik und Logik als Steckenpferd und hatte vermutlich zusammen mit Johann von Salisbury vor 1140 in Frankreich studiert. Bernhard hielt es jedenfalls für nötig, an Guido erneut zu schreiben und ihn gegen Peter Abaelard einzuschwören, nachdem er ihm schon zuvor Abaelards Bücher geschickt, aber offensichtlich keine Antwort erhalten hatte.
Das Binnenverhältnis zwischen Peter Abaelard und seinem ehemaligen Schüler Arnold von Brescia lässt sich aus den an Übertreibungen reichen Briefen Bernhards von Clairvaux an den Papst nicht eindeutig definieren. Vermutlich war beider Allianz nicht so eng, wie Bernhard es glauben machte, zumal programmatische und taktische Differenzen bestanden haben könnten. Im Übrigen gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass Arnold auf dem Konzil von Sens persönlich zugegen gewesen sei, geschweige denn zugunsten Peter Abaelards interveniert hätte. Die zeitliche Kluft, die zwischen der Vertreibung Arnolds aus Italien im April 1139 und dem Prozess gegen Peter Abaelard im Jahr 1141 klafft, lässt außerdem die Überlegung zu, ob nicht eine bis dato als Anachronismus angesehene Äußerung Ottos von Freising in seinen Gesta Friderici der historischen Wahrheit entspricht: Arnold von Brescia könnte sein Exil zunächst längere Zeit in Zürich verbracht haben, ehe er zu unbekanntem Zeitpunkt nach Frankreich zu Peter Abaelard wechselte. Gunther von Pairis, der Ligurinus-Dichter, bestätigte wenig später die Angaben Ottos.
Obwohl Peter Abaelard wahrscheinlich schon vor dem Konzil von Sens über eine Einladung des Petrus Venerabilis nach Cluny verfügte, scheint er, als er bereits päpstlich verurteilt war, zunächst noch versucht zu haben, in räumlicher Nähe zu Heloisas Paraklet-Konvent, im Priorat Saint-Ayoul in Provins, unterzukommen. Dies stellen nicht nur die Entstehungsumstände der Confessio ad Heloissam, sondern auch ein bislang in diesem Zusammenhang nicht gewerteter Brief des Abtes von Montier-la-Celle in den Raum: Abt Peter von Celle hatte Heloïsa eine harsche Abfuhr erteilt, nachdem diese um die Versorgung eines Flüchtlings gebeten hatte. Dass der bereits von Krankheit gezeichnete Peter Abaelard dagegen noch versucht habe könnte, nach Rom zu reisen, ist angesichts der relativen Chancenlosigkeit eines solchen Unterfangens und der Strapazen einer derartigen Sommertour eher abwegig. Nach einer genaueren Analyse der betreffenden Textstelle in einem Brief des Petrus Venerabilis spricht wenig für eine derartige Reise: Der hier geschilderte Transitus muss nicht zwangsläufig topographisch verstanden werden, sondern meint im übertragenen Sinn auch einen Konventsübertritt.
Unter den Fachleuten besteht wenig Zweifel darüber, dass Bernhard von Clairvaux seine berühmte Predigt De conversione an die Schulleute von Paris u. a. als Seitenhieb auf Peter Abaelard verstand. In ihr stellte er z. B. Kleriker, die „sich nicht nur den Schlüssel zum Wissen, sondern auch zur Amtsgewalt angemaßt hätten, ohne berufen worden zu sein“ mit vernichtenden Worten an den Pranger. Seltsam ist jedoch, dass Abaelard in dieser Predigt nicht beim Namen genannt wird. Im Gegensatz zu den traditionellen Datierungstheorien, die die Predigt in der Weihnachtszeit des Konzilsvorjahres ansiedeln, sprechen u. E. etliche Gesichtspunkte dafür, dass die Predigt nicht den Vorspann des Verfahrens gegen Abaelard markiert, sondern eher einen Nachhall auf die Abaelardschen Ketzereien nach dessen Verurteilung darstellt. Sie wurde vermutlich erst im Frühjahr 1142, anlässlich einer diplomatischen Reise Bernhards in den Norden Frankreichs, gehalten, kurz vor dem Konzil von Lagny.
Im Anschluss an die Predigt soll Bernhard von Clairvaux nach einem Augenzeugenbericht Rainalds von Foigny, der sich in einem Wunderbuch Herberts von Torres wiederfindet, in der Kapelle eines Archidiakons von Paris einen seelischen Zusammenbruch erlitten haben. Bekanntermaßen besaß von den Archidiakonen des Doms nur Stephan von Garlande eine Eigenkirche, die Kapelle Saint-Aignan, die er dem Dom überschrieben hatte. In ihr hatten vermutlich mehr als zwei Dekaden zuvor Heloïsa und Peter Abaelard geheiratet. Stephan von Garlande scheint damals die Gelegenheit ergriffen und Bernhard seine Aufwartung gemacht zu haben. Die Anekdote bestätigt in ihrem historischen Gehalt die Annahme, dass sich Bernhard und Stephan schon unmittelbar nach der Ausschaltung Peter Abaelards auf einem Annäherungskurs befanden, was durch die chaotischen Zustände in der Krondomäne und der Notwendigkeit neuer Koalitionen mitbedingt gewesen sein mag.
Zum Abschluss stellte sich die Frage, welcher Umstand oder welches Mittel Peter Abaelard am ehesten vor einer päpstlichen Verurteilung hätte schützen können. Die nüchterne Antwort lautet: Geld!
Zahlreiche Quellen belegen, dass Papst Innozenz II. gegen Ende seiner Amtszeit den drohenden Machtverlust unter anderem dadurch abzuwenden versuchte, dass er zur Befriedigung der unersättlichen und verschlagenen Römer und zur Finanzierung des päpstlichen Hofes nur allzu bereitwillig Bestechungsgelder für sich und seine Kurienkardinäle entgegennahm. Im Hinblick auf diese skandalöse Praxis am Heiligen Stuhl und die Tatsache, dass nachweislich auf diese Weise einige Urteile gebeugt wurden, ergibt sich am Ende ein wenig erhebender Schluss: Peter Abaelard, der sich nach den Angaben der Historia Calamitatum als Abt von Saint-Gildas in der Bretagne etwas Vermögen erworben hatte, hätte sich unter Umständen - so er denn gewollt oder gekonnt hätte - von der päpstlichen Verurteilung freikaufen können! Doch man muss ihm und seinem großen Widersacher Bernhard von Clairvaux zugute halten, dass bei ihrem erbitterten Ringen um die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Glaubens zu keinem Zeitpunkt der Einsatz derart unchristlicher Mittel eine Rolle spielte.
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Akten: Die päpstlichen Urteile gegen Peter Abaelard
Die päpstliche Verurteilung Peter Abaelards
Eine analoge
Originalbulle
Papst Innozenz' II. vom 28. 2.1137
Archives départementales Maine et Loire, 101 H1
Innozenz' Gegenspieler in Süditalien
König Roger II. von Sizilien
Mosaik
Idee: Das Konzil von Sens ein Ereignis des Jahres 1138?
Niederlage Innozenz' II. bei Mignano
Kardinäle und Mönchen in Geiselhaft
Grandes Chroniques de France, Paris, 14. Jhd.
Fluchtwege in Rom
Kartendetail Trastevere
Urbis Romae descriptio, Stadtprospekt aus dem 18. Jhd.
Papst Innozenz II. als Förderer der Kirchen
Mosaik aus Santa Maria in Trastevere
Mosaikkunst aus dem 12. Jahrhundert
Wunder: Die Eleutherius-Vision von Tournai
Das Eleutherius-Wunder von Tournai
Der Heilige Eleutherius
und die Kirche von Tournai
Mosaik aus dem 19. Jahrhundert
Eleonore und Ludwig VII. von Frankreich
Ludwig VII. und Eleonore im Gebet
Grandes Chroniques de France, 14. Jhd.
Ludwig VII. im Krieg gegen die Champagne
Feldzug des franzöischen Königs Ludwig VII.
Grandes Chroniques de France, Paris, 14. Jhd.
Termine: Die Überführung der Gebeine der Heiligen Rictrudis
Die Gebeinde der Heiligen Rictrudis
Die Kirche Sainte-Rictrude in Ronchin bei Lille
Fotografie am Rictrudisfest
Der Konvent von Marchiennes
Ansicht des Klosters Marchiennes Ende 16. Jhd.
Ausschnitt aus einem Albumblatt des Duc Charles De Croy von
1603
Doppelspiel: Nikolaus von Montiéramey und seine Mission
Schenkung Hattos von Troyes an Cluny
Kirchen bei Sézanne im
Brie
Kartendetail J.G.A. Jaeger, Carte topographique, 18. Jdh.
Nikolaus von Montiéramay als Fälscher
Siegel des Heiligen
Bernhard
Das Schisma in Rom
Das Schisma zwischen Anaklet II. und
Innozenz II.
Grandes chroniques de France, Paris 14. Jdh.
Der Kurier des heiligen Stuhls
Mittelalterlicher Reiseweg
über den Mont Cenis
Reaktion: Abaelards Scheiden
Bernhards Arbeit am Hohen Lied der Liebe
Der Heilige
Bernhard beim Studium orationis
Namensvettern: Stephan von Garland und Stephan von Senlis
Zwist zwischen König und Kirche
König Ludwig VII. diskutiert mit den Bischöfen
Grandes Chroniques de France, Paris, 14. Jdh.
Refugium:
Abaelards Lehrstuhl bei Saint-Hilaire
Abaelards Lehrstuhl bei Saint-Hilaire
Saint-Hilaire-du-Mont
Ausschnitt Stadtprospekt von 1618
Saint-Hilaire und Sainte-Geneviève
Lage der Pfarre und Zinshufen von
Saint-Hilaire.
Katasterplan aus dem 18. Jahrhundert
Beziehungen: Peter Abaelard und Gilbert de la Porrée
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Das Stift Saint-Marcel
Der
Burgus Sancti Marcelli
PLan de Paris von 1725
Peter Abaelard und Gilbert de la Porrée
Bischof Gilbert
von Poitiers beim Unterricht
Buchmalerei
Rätsel: Der Rückzug des Pariser Bischofs
Stephan von Senlis und die Victoriner
Das Stift
Saint-Victor
Ausschnitt Stadtprospekt von 1618
Die Siegel des Pariser Bischofs
Die beiden Siegel Stephans von Senlis
Cartulaire Générale de Paris
Ablösung: Das Ende der freien Lehre auf dem Montagne Sainte-Geneviève
Das Ende der freien Lehre
Das Stift
Sainte-Geneviève bei Paris
Ausschnitt Stadtprospekt von 1618
Angriff: Bernhard von
Clairvaux und die Beunruhigung der Orthodoxen
Die Eröffnung des Lehrzuchtverfahrens
Bernhard
von Clairvaux und Wilhelm von Saint-Thierry
B-Initiale, Buchmalerei
Die Rechtfertigung
Abaelard liest aus seinen Schriften
Stich von A. Guilleminot von 1844
Sturmwolken: Politische Krisen in Frankreich
Die Unruhe in den französischen Städten
Abaelards Einzug in Paris
Bild von Épinal von 1840
Der Aquitanienfeldzug
Kampagne Ludwig VII.
Grandes Chroniques de France, Paris, 14 Jdh.
Vorentscheidung: Der
Konzilstag von Sens
Der Konzilstag von Sens:
Kathedrale Saint-Étienne in Sens
Aktuelle Fotographie
Die Reliquienschau von Sens
La Sainte Coupe -
Reliquiar aus Saint-Étienne in Sens
Abbildung aus dem Stadtprospekt
Aufschub:
Abaelards Appell an den Papst
Die vereitelte Disputation
Bernhard und Abaelard vor dem Metropolitangericht
aus dem Bernhardzyklus im Zisterzienserinnenkloster Wurmsbach
Die Vorverurteilung Abaelards
Festbankett der Größen von Reich und Kirche
Grandes Chroniques de France, Paris, 14 Jdh.
Bernhard als Ankläger von Sens
Bernhard auf dem Konzil von Sens
Szene aus dem Film Stealing Heaven
Einflussnahme: Bernhards
Briefe an die Kurie in Rom
Bernhards Briefe an den Papst und die Kurienkardinäle
Der Papst und das Kardinalskonsistorium
Wandmalerei, Lateranpalast
Waffenträger: Arnold von
Brescia
Peter Abaelard und Arnold von Brescia
Die
Satansbrut sucht die Kirche heim.
Grandes Chroniques de France, Paris, 14. Jdh.
Fanal:
Die päpstliche Verurteilung vom 16. Juli 1141
Abaelards Fall an der Kurie
Papst und Kardinäle bei der Beratung
Grandes Chroniques de France, Paris , 14. Jhd.
Der Suprematieanspruch des Papstes
Sedes stercorata im
Lateranpalast
Fotografie Kreuzgang, Lateran
Finale:
Letzte Tage in Cluny
Abaelards letzte Tage in Cluny
Abbaziale
Cluny III. im 12. Jahrhundert
Abaelards Tod
Der Tod eines Benediktiners
Nachspiel:
Bernhards Predigt De conversione an die Kleriker von Paris
Bernhard als Volksprediger
Bernhard predigt in Vézelay
Bernhard und seine Predigten
Mönch bei der Arbeit im
Skriptorium
Das Konzil von Lagny
Lagny an der Marne
Kartendetail J.G.A. Jaeger, Carte topographique, 18. Jdh.
Bernhards Zusammenbruch im Oratorium
Die Kapelle
Saint-Aignan
Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert
Abgesang: Römische Impressionen
Die Bestechlichkeit des Heiligen Stuhls
Kapelle Nikolaus V. im Vatikan
Fresko von Beato Angelico