Abaelards Freunde
Die Liste der Zeitgenossen, mit denen
Heloïsa und
Abaelard im Laufe ihres Lebens in Kontakt kamen, ist lang. Illustre Namen finden sich darunter, sowohl auf der Seite der Gegner als auch auf der Seite der Anhänger und Gönner. Doch findet sich praktisch keiner daunter, den
Abaelard selbst als
familiaris - enger Freund - bezeichnet hätte. Trotzdem hat
Abaelard zweifelsohne Freunde gehabt; da sie jedoch in der Regel von
Abaelard nicht namentlich genannt wurden, sind sie in der Anonymität geblieben. Diesen persönlichen Freunden ist die vorliegende Seite gewidmet:
Wir lesen in der Überschrift der Historia Calamitatum:
Abaelardi ad amicum suum consolatoria, d.h. Abaelards Trostbrief an einen Freund
Abaelard folgte in der
Historia Calamitatum dem literarischen Typ der
Epistola Consolatoria, des Trostbriefes, der sein berühmtes antikes Vorbild in den Briefen des Philosophen
Seneca an seinen Freund
Lucilius fand. Insofern könnte man den erwähnten Freund als eine literarische Fiktion betrachten. Dennoch gewinnt man in einzelnen Formulierungen den Eindruck, dass
Abaelard bei diesem Freund ein durchaus reales Vorbild aus dem klösterlichen Umfeld vor Augen hatte:
Gelieber Bruder in Christo und aus langewährendem Umgang vertrauter Freund! Was ich dir bis hierher geschrieben habe von der Geschichte meiner Niederlagen, mit denen ich von der Wiege an ohne Aufhören zu kämpfen habe, möge genügen für deine Trostlosigkeit und das dir angetane Unrecht.
Die Vorstellung eines realen Freundes wurde von
Heloïsa in ihrer literarischen Replik, Brief 2 des Briefwechsels, bestätigt:
Den Brief, den Ihr einem Freund zum Trost geschickt, innig geliebter Mann, hat man vor kurzem durch einen Zufall mir überbracht.
Außerdem hatte Abaelard in seiner Anrede dieses Freundes das vertrauliche
Du gewählt. Wir dürfen somit mit einiger Berechtigung davon ausgehen, dass es ein entsprechendes Freundschaftsverhältnis
Abaelards gab.
Hinweise auf treue Freunde gibt es auch in weiteren Passagen der Historia Calamitatum:
Seine Ankunft in Soissons, kurz vor seiner Verurteilung, beschrieb Abaelard so:
Bevor ich noch dort ankam, hatten mich meine beiden Hauptwidersacher bei Klerus und Volk so angeschwärzt, dass das Volk mich mit meinen paar Begleitern noch am ersten Tag unserer Ankunft beinahe gesteinigt hätte...
Es müssen treue Freunde aus dem Schülerkreis gewesen sein, die
Abaelard trotz der Gefahr einer Steinigung begleiteten.
Ähnliche Anhaltspunkte finden sich bei Abaelards Flucht aus dem Kloster Saint-Denis. Auch hier fanden sich Menschen, die Abaelard durch Dick und Dünn folgten:
So entwich ich denn mit dem Einverständnis einiger Brüder, die Mitleid mit mir hatten, und unter Beihilfe einiger meiner Schüler heimlich bei Nacht und flüchtete in das angrenzende Gebiet des Grafen Theobald, wo ich früher in einer Einsiedelei gelebt hatte...
Ein befreundeter Prior in
Saint-Ayoul in
Provins fand die besondere Erwähnung
Abaelards:
Ich hielt mich zunächst bei dem Schloß Provins auf, in einer Klause der Mönche von Troyes, deren Prior mir bereits vorher befreundet gewesen war und mich liebgewonnen hatte...
Nach dem Kartularium von
Montier-la-Celle bei
Troyes, dem Mutterklstoer von
Saint-Ayoul, hieß der erwähnte Prior wahrscheinlich
Radulf. Er wurde eventuell später sogar Abt von
Montier-la Celle.
Erneut nannte Abaelard Freunde, wenn auch nicht namentlich, als er seine entgültige Entlassung aus dem Klosterverband anstrebte:
Als auch er - gemeint ist Abt Suger - zuerst nicht recht auf die Sache eingehen wollte, gewann ich durch Vermittlung einiger Freunde den König und seinen Rat dafür und erreichte so, was ich wollte.
Wenig später, bei der Gründung des
Paraklet, erzählte Abaelard erneut von einem engen Vertrauten:
In dieser Einsamkeit mit einem befreundeten Kleriker lebend, konnte ich allen Ernstes dem Herrn das Lied singen...
Später wurde die Lage im
Paraklet immer unsicherer. Und wieder sprach
Abaelard von Freunden:
Ja, sie sprengten über meinen Glauben und über mein Leben so abenteuerliche Gerüchte aus, dass selbst meine besten Freunde sich von mir abwandten...
Auch in der feindlich gesonnenen Abtei
Saint-Gildas in der
Bretagne blieb
Abaelard nicht ganz ohne die Unterstützung von Freunden:
Ich entfernte mich aus der Abtei und hielt mich mit wenigen Getreuen in kleinen Zellen auf...
Später ging
Abaelard eine spirituelle Freundschaft ein, zu welcher ihn
Heloïsa drängte:
So wirst du wenigstens an uns, die wir allein dir treu geblieben, Genossinnen deiner Leiden und deiner Freuden haben... Denn wir dürfen uns nicht bloß deine Freundinnen, sondern deine Herzensfreundinnen, nicht deine Genossinnen, vielmehr deine Töchter nennen.
Abaelard wurde geistiger Vater der Paraklet-Nonnen. Im
Paraklet muss er sich sehr wohl gefühlt haben, nicht zuletzt durch den freundschaftlichen Umgang mit den Schwestern:
Und so flüchtete ich mich aus der Drangsal dieses Sturmes zu den Schwestern wie in einen stillen Hafen, um dort ein wenig Atem zu schöpfen, da ich an den Mönchen überhaupt keinen, an ihnen zumindest einigen Ertrag erzielte...
Ob
Abaelard ein Freundschaftsverhältnis mit dem ihm sehr gewogenen Abt
Petrus Venerabilis von
Cluny einging, muss offen gelassen werden. Er selbst äußerte sich jedenfalls in den heute bekannten Dokumenten nicht dazu.
Kann Heloïsa als beste Freundin Abaelards bezeichnet werden? In einem gewissen Sinne ja - aber damit wäre das einzigartige Verhältnis der beiden Liebenden in keiner Weise vollständig beschrieben. So soll der Rolle Heloïsas im Gefühlsleben Abaelards ein anderer Ort zur Beschreibung vorbehalten bleiben.
Bliebe noch zu mutmaßen, warum Abaelard seine persönlichen und engen Freunde in der Historia Calamitatum ebenso wenig wie in anderen Schriften mit Namen nannte. Vermutlich deshalb, um sie nicht in die Auseinandersetzungen seines Lebens unnötig hineinzuziehen. Vielleicht aber auch nur deshalb, weil in der wiedererwachenden Tradition der Antike echte Freundschaftsverhältnisse einer besonderen Diskretion unterlagen.
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