Roscelin de Compiègne
Roscelinus von Compiègne lebte von ca. 1050 bis ca. 1120. Er war wie
Abaelard Philosoph und Theologe. Die Annahme früherer Autoren, dass er wie dieser aus der Bretagne stammte, ist durch die jüngste Forschung nicht bestätigt worden. Wahrscheinlich wurde er um 1050 in Compiègne in Nordfrankreich geboren. In
Soissons und
Reims soll er studiert haben. Als Kanoniker und Mitglied der Domkapitel von Tours und Besançon war er der Verfasser einer Doktrin, auf Grund derer er beschuldigt wurde, die Dreieinigkeit Gottes abzuleugnen. Seine geistige Auseinandersetzung mit den Autoritäten seiner Zeit, v. a. mit
Lanfranc,
Anselm von Canterbury und
Ivo von Chartres, ist kaum durch Dokumente belegt. Der Mangel an schriftlichen Werken erschwert die Beurteilung seiner Lehre. Dennoch sind einige Rückschlüsse möglich - auf Grund der Kontraste zwischen dem, was er in einem Brief an
Abaelard - das einzige von ihm überlieferte Dokument - gesagt hat, und den überlieferten Kritiken, die mehrere Zeitgenossen ebenfalls in brieflicher Form hinterlassen haben. Beim Konzil von
Soissons im Jahre
1093 wurde er wegen seiner tritheistischen Lehre gebrandmarkt. Ob er wirklich verurteilt wurde, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall musste er Frankreich verlassen. Im Jahr darauf wurde er auch aus England ausgewiesen, nach dem er sich in moralisierender Weise abschätzig über den Lebenswandel der dortigen Priester geäußert hatte.
Anselm, vormals Abt von
Bec und nun Erzbischof von
Canterbury, schrieb gegen ihn. In
Chartres fand er keine Bleibe, obwohl ihm Bischof
Ivo wohl gesonnen war, denn es drohte ihm dort die Steinigung. Offensichtlich konnte er seine Lehre in
Tours und in
Loches fortsetzen, wo
Abaelard sein Schüler wurde. Im Jahre 1098 brachte er persönlich eine revidierte Version seiner Trinitätslehre zu Papst
Urban II., mit der Bitte um Begutachtung. Es fand das Wohlwollen des Papstes. Nach dieser Zeit ist nichts von ihm überliefert, was ihn in die Nähe der Häresie gebracht hätte.
Hatte er wirklich - wie Otto von Freising behauptete - die sententia vocum und damit die antirealistische Theorie - genannt Nominalismus - geschaffen, und wurde er somit zum Protagonisten, an dem sich der Universalienstreit entzündete? Auf eine Frage, die durch die Isagoge von Porphyrius erhoben wurde: Sind die Arten und Gattungen existierende Realitäten - res - oder lediglich Geistesprodukte, vermittelt durch die Worte - voces - hatte er einst geantwortet, dass allein das individuum, das Unteilbare, real sei; die Allgemeinideen - z.B. Begriffe wie gross, Mensch - seien lediglich Worte - nomina oder flatus vocis. Diese Aussage referierte zumindest Anselm von Canterbury. Davon leitete sich der Begriff des Nominalismus ab, der später bis zur Neuzeit hin zu einem Sammelbegriff divergierender und heterogener Auffassungen wurde. Eine gefährliche Konsequenz, die sich aus der Haltung Roscelins für die Theologie ergeben konnte, war, dass der Dreifaltigkeit keine gemeinsame Substanz zugeschrieben werden konnte, da ja nur das Individuum, d.h. die Einzelperson, existierte. So erklärte sich die Bestätigung von drei unterschiedlichen göttlichen Substanzen, denen Roscelin dennoch denselben Willen und dieselbe Macht zuerkannte. Genau deshalb war er des Tritheismus angeklagt und 1093 nach Soissons vor das Konzil beordert worden. Wenn in Gott nur eine Substanz liege - so eines der Argumente von Roscelin - , dann wären der Vater und der Geist mit dem Sohn fleischlich vereint. Allerdings hat Roscelin später in seinem Brief an Abaelard nicht in diesem Sinn argumentiert, was seine eigentliche Haltung schwer beurteilbar macht. So unpräzise und verschwommen seine Lehre heute für uns auch bleibt - Roscelin zeigte auf seine Art das Eindringen der Dialektik in die Theologie am Ende des 11. Jahrhunderts.
Abaelard lehnte den puren Nominalismus eines Roscelin ebenso wie den utopischen Realismus eines Wilhelm von Champeaux ab und wählte einen wissenschaftlichen Mittelweg zwischen den extremen Standpunkten: Wie bei de la Porrée und Johannes von Salisbury wurde von ihm die reale Existenz von Universalien vor und nach den Einzeldingen negiert, er nahm allerdings an, dass diese im Verstand vor jeglicher Erfahrung entstandene Allgemeinbegriffe - Konzepte - sind, die die Rolle einer besonderen Form der Erkenntnis beinhalteten. Die Universalien sind nach diesen Theorien bewusstseinsmäßige Begriffe oder Vorstellungsbilder, die durch das Abstrahieren von Gleichheiten zwischen Einzeldingen zustande kommen. Diese Richtung des Nominalismus ist in die Geschichte der Logik unter dem Namen Konzeptualismus - von lateinisch concipere, begreifen, sich vorstellen - eingegangen. Abaelard hatte allerdings diesen Begriff ebenso wenig wie Roscelin den des Nominalismus selbst genannt.
Roscelin und die Kontroverse mit Abaelard
Die wissenschaftlichen Gegensätze zwischen
Abaelard und
Roscelin waren zuletzt unüberbrückbar. Etwa im Jahre 1120 kam es zu einer gehässigen Kontroverse. Obwohl nicht alle einschlägigen Dokumente erhalten sind, lässt sich diese Kontroverse in ihren Grundzügen rekonstruieren:
Abaelard verfasste kurz vor seiner Verurteilung in
Soissons einen heute verloren gegangenen Brief an die Kanoniker von
Saint-Martin in
Tours, in dem er die Lehre ihres Kollegen
Roscelin verunglimpfte. Ungefähr aus der gleichen Zeit datiert
Abaelards Beschwerde beim Bischof von Paris,
Gilbert. In seiner Beschwerde erklärte Abaelard, die
Theologia Summi Boni in einer kritischen Auseinandersetzung mit der
Roscelinschen Irrlehre verfasst zu haben.
Hierauf sah sich Roscelin seinerseits herausgefordert, Abaelards früheren Brief mit einer geharnischten Antwort zu quittieren. Dieser Brief steht innerhalb dieser Seiten in lateinisch-deutscher Fassung zur Verfügung:
Brief des Roscelin von Compiègne an Peter Abaelard
Indem er in Einzelpunkten auf den verloren gegangenen Brief an die Kanoniker von Saint-Martin in Tours einging, protestierte er gegen die Lehre und die Person seines Kontrahenten und sparte dabei nicht mit Grobheiten und Zynismen, vor allem, was die Umstände von Abaelards Klostereintritt betraf. Der Brief an Abaelard ist der einzig erhaltene Text, der sicher Roscelin zugeschrieben werden kann. Aus ihm lassen sich interessante Rückschlüsse und Details zu Abaelards Biographie und seinem Verhältnis zu Roscelin entnehmen:
- Roscelin erklärte, Abaelard sei lange Zeit sein Schüler gewesen - vom Knaben- bis zum Jugendalter, d.h. ca. 1093 - 1099. Abaelard erwähnte ihn dagegen nicht in seiner Historia Calamitatum, aber kurz als Lehrer in seiner Dialectica. Otto von Freising bestätigte Roscelin als Abaelards ersten Lehrer.
-
Dies erklärte - trotz aller späteren Feindschaft - zumindest einen Teil der auffallenden Parallelen im Leben der beiden:
- Beide kamen über die Dialektik zur Theologie, beide wandten die dialektische Methodik bei theologischen Fragestellungen an.
- Beide beschäftigten sich mit der Trinitätslehre.
- Beide wurden deshalb der Häresie angeklagt oder verdächtigt.
- Beide wurden vor ein Konzil zitiert, und zwar in der gleichen Stadt, Soissons.
- Beide wurden zeitweise aus Frankreich vertrieben.
- Beide suchten deshalb Asyl in anderen Gegenden.
- Beide reklamierten Akzeptanz in Rom und appellierten an den Papst.
- Beide präsentierten sich - um die eigene Glaubwürdigkeit zu untermauern - als Meister des Zölibats.
- Beide blieben trotz aller Anfeindungen ihrer Linie treu.
- Beide waren anerkannte Lehrer und erhielten Zustrom von Hörern auch nach ihren Verurteilungen.
- Beide neigten - was das Verhalten anderer Kleriker anbelangte - zu einem für heutige Verhältnisse oft penetrant-moralisierenden Unterton.
- Beide zeigen fast identische Argumentationsmethoden in ihren Schriften, wenngleich sie auch zu anderen Ergebnissen kamen. Roscelin selbst reklamierte sogar expressis verbis einen großen Einfluss auf Abaelards Denken: Wie viele und wie große Wohltaten habe ich dir vom Knabenalter bis zur Jugend mit Rat und Tat eines Magisters erwiesen...
- Roscelin erwähnte, Abaelard habe es als Mönch in Saint-Denis nicht lange ausgehalten und hätte bei zwei Kirchen das Lehren wieder aufgenommen. Außerdem trage er sein Geld zu seiner Hure. Dies führte mitunter zu Datierungsmissverständnissen. Vermutlich spielte Roscelin nicht auf die Episode an, als Abaelard im Paraklet weilte, um das Areal Heloïsa zu übergeben. Denn dies muss zeitlich erst lange nach dem Tode Roscelins stattgefunden haben, ca. 1129/1130. Vielmehr wird Abaelard nach seiner Verstümmelung auch von Saint-Denis - bzw. den aufgesuchten Einsiedeleien, z.B. Maisoncelles - aus Heloïsa als rechtmäßige Ehefrau im Kloster Argenteuil finanziell unterstützt haben. Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass der Kontakt zwischen den beiden doch nicht so vollständig unterbrochen war, wie es ihr späterer Briefwechsel suggerierte.
- In diesem Brief findet sich der einzige Hinweis, dass Abaelard seinen Zeitgenossen Robert von Arbrissel - zumindest ideell - unterstützte. Robert hatte zusammen mit Hersendis von Champagne das Doppelkloster Fontevraud gegründet und unter einem spiritualistischen Armutsideal dort auch Ehefrauen, die ihre Männer verlassen hatten, aufgenommen. Hier zeigen sich auffallende Parallelen zu Abaelards späteren Einsatz für Heloïsa und ihre Nonnen. Auch diese beiden hatten die Frauenproblematik erkannt, aufgegriffen und theologisch untermauerte Lösungskonzepte entwickelt - wahrlich ein zur damaligen Zeit einmaliger Vorgang in einer von Männern dominierten Welt.
- Roscelin erwähnte einen Siegelring Abaelards mit dem Abbild eines Mannes und einer Frau, den dieser offensichtlich auch nach seiner Konversion verwendete. Handelte es sich dabei um ein Geschenk Heloïsas? Etwa um den Trauungsring? Oder lag eine Missinterpretation vor, z.B. Verwechslung mit den Patronen von Saint-Denis? Darüber gibt es keine weiteren Informationen; denn Hinweise auf diesen Ring finden sich nirgends.
Roscelins Rolle in Philosophie und Theologie
In der Philosophie des Mittelalters und der Neuzeit wurde man lange Zeit der Figur des
Roscelin von Compiègne wenig gerecht. Man stilisierte ihn hoch zum Helden und Märtyrer und belegte ihn mit Attributen, die der historischen Überlieferung wenig Rechnung trugen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts kam es unter den Historikern und Philosophen zu einem gewissen Umdenken, nachdem
Picavet in einer kritischen Revision versucht hatte, Legende und Historie zu trennen. Der betreffende Artikel ist trotz seines Alters auch heute immer noch lesenswert, zumal er auch nahezu alle Primärquellen zu Roscelin in lateinischer Sprache referiert. Er steht deshalb innerhalb dieser Seiten als deutsche Übersetzung (französisches Original auf Anfrage per Email) zur Verfügung:
Picavet, F., Roscelin, philosophe et théologien d'après la légende et d'après l'histoire, Paris, 1906
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