Eine Totenrotel, welche anlässlich des Todes des Abtes Vitalis von Savigny
im Jahre 1122 anschließend zwei Jahre in den Klöstern Frankreichs und Englands kursierte, machte - vermutlich im Jahre 1123 - auch Halt im Nonnenkloster Sainte-Marie d'Argenteuil, in welchem damals auch Heloïsa nach ihrer Trennung von Abaelard weilte. Ob sie zu diesem Zeitpunkt schon das Amt der Priorin inne hatte, ist ungewiss.
Aufgrund der nur wenigen erhaltenen Totenroteln des französischen Frühmittelalters darf man davon ausgehen, dass dieser religiöse Brauch nicht so weit verbreitet war, wie manchmal angenommen. Er machte ja auch nur bei hochgestellten, allseits bekannten Persönlichkeiten einen Sinn. Als einfachere Varianten gab es auch die Jahresrollen, welche einmal im Jahr einem befreundeten, durch
Kommemorationsfeiern verbundenen Nachbarkonvent die Verstorbenen des eigenen Konventes mitteilte. Ansonsten verwendete man meistens kürzere Laufbriefe oder Breviarien.
Die zu seinen Ehren geschaffene Totelrotel machte ein weite Runde. Die erhaltene Reihe der fünfzehn Pergamentblätter beträgt insgesamt 9,50 m Länge, bei einer allerdings nur geringen Breite von 22,5 cm. Dabei scheint die Rolle mindestens einmal von ihrer Halterung entfernt worden zu sein, denn der Anfang der Rolle mit der hagiographischen Vita des Verstorbenen fehlt heute. Das gesamte Rotelblatt dürfte demnach ursprünglich ziemlich genau 10 Meter lang gewesen sein. Die Pergamentblätter wurden auf Vorder- und Rückseite geschrieben. Da sich die Anzahl der Stationen in Nord- und Mittelfrankreich, die auf jeweils einer Seite festgehalten sind, in etwa umfangsmäßig entsprechen, dürfte die Route und die Anzahl der zu besuchenden Konvente schon vorher genau geplant gewesen sein. Die Rotel durchlief insgesamt 206 Konvente, die von Delisle in einer Liste verzeichnet wurden. Die Tatsache, dass die jeweils letzten 25 Titel auf beiden Seiten ausschließlich von Abteien in England gestaltet wurden, und dass sich andererseits als Einsprengsel englische Abteien auch weiter vorne in der Reihenfolge finden, spricht sehr für ein späteres Neuarrangement der Beiträge. Der englische Anhang mag somit nachträglich angeheftet worden sein. Dabei könnte der Anfang der Rotel verloren gegangen oder zerrissen worden sein. Die Reihenfolge der französischen Titel erscheint ebenfalls stellenweise etwas durcheinander geraten. Trotz gewisser Inkoherenzen steht folgende Gesamtroute einigermaßen fest:
Die Rotel wurde zuerst von der Normandie aus durch Nordfrankreich transportiert, bis etwa Soissons und Reims, und kam anschließend weiter bis Burgund. So zeichnet sich die erste Reiseroute im Jahre 1122 in etwa folgendermaßen ab: Caen, Avranches, Cotentin, Bayeux, Lisieux, Fécamp, Beauvais, Pontoise. Ende 1122 oder Anfang 1123 traf die Rolle in Argenteuil, Saint-Denis und
in Paris ein. Sie passierte dabei auch Saint-Martin-des Champs, Saint-Germain-des-Prés, Saint-Victor, Sainte-Geneviève, Notre-Dame, Saint-Magloire. Anschließend gelangte sie nach Reuil, Chézy, Essommes, Meaux, Soissons, Laon, Reims, Châlons, Troyes, Auxerre, Autun. Der östliche Umkehrpunkt lag in somit Burgund. Von dort erreichte die Rotel das Berry, das Bourbonnais, die Touraine, wurde auf der Loire von Tours bis Orléans transportiert, kam dann nach Chartres, Angers, ins Anjou und Poitou, kehrte erneut nach Angers zurück und nahm zuletzt ihren Weg nach Savigny, Saint-Sever, Sées und Evreux. Von dort brachte man sie an die Seinemündung und per Schiff über den Ärmelkanal nach England, wo sie weitere 25 Grafschaften erreichte. Über das weitere Geschick des Dokumentes nach Anschluss der Rundreise ist wenig bekannt. Man weiß weder, wann die Rolle nach Savigny oder Mortain zurückkam, noch, ob sie ständig dort verblieb. Während der französischen Revolution kam sie von Mortain erneut nach Paris, wo sie noch heute im Nationalarchiv aufbewahrt wird.
Er hegte folglich keinen Zweifel daran, dass die Elegie von Argenteuil von Heloïsa persönlich verfasst worden sein muss. In der Tat liegt diese Annahme auf der Hand: Heloïsa weilte mit Sicherheit zum betreffenden Zeitpunkt am betreffenden Ort. Selbst wenn man den Tod von Vitalis in das Jahr 1119 vorverlegt - wie von einzelnen Autoren in den Raum gestellt -, so war die Rotel frühestens im Jahre 1120 - also nach Heloïsas Konversion um 1118/1119 - in Argenteuil eingetroffen. Für den Fall, dass Heloïsa in der Tat das Gedicht selbst formuliert hatte, verfügte man damit über ein einmaliges Dokument mit ihrer genuinen Handschrift. Im übrigen sind durch einen Brief des Kanonikers Hugo Metellus ihre dichterischen Fähigkeiten überliefert. Außerdem enthält das Dokument den Namen Christus zweifach als Akronym mit den griechischen Buchstaben Xp. Dass Heloïsa des Griechischen mächtig war, hatte Abaelard selbst in Brief 9 erwähnt. Besonders auffällig sind auch die konzisen Formulierungen und der nüchtern-gesetzte Unterton des Dokumentes, welcher alle panegyrischen Lobeshymnen auf den Verstorbenen vermied. Ähnlich knapp und schlicht hatte Heloïsa zum Beispiel auf einen überschwänglichen Brief des Abtes von Cluny, Petrus Venerabilis, geantwortet. Obendrein enthält das Totengedicht überraschenderweise zwei Begriffe aus dem philosophischen Vokabular Abaelards, nämlich vis rationis und utilitas.
Trotzdem gib es keinerlei Beweise für diese attraktive Verfasserhypothese. In Anbetracht der Tatsache, dass Heloïsa in eben
demselben Konvent ihre literarischen Fähigkeiten einst erlernt hatte, wird man zugeben müssen, dass dort mindestens eine, wahrscheinlich sogar mehrere Nonnen weilten, die
ebenfalls über einen entsprechenden Bildungshorizont verfügten. Außerdem ist das Totengedicht nach
Inhalt und Formulierung so allgemein und knapp gehalten, dass es durchaus als Vorlage,
die quasi immer wieder - bei Bedarf - verwendet wurde, auch bei anderweitigen
Gedenkterminen fungiert haben könnte. Auch ein Textvergleich mit den sonstigen Schriften
Heloïsas, welche im Übrigen erst über ein Jahrzehnt später
entstanden sind, führt in diesem Zusammenhang nicht weiter. Im zweiten Brief an Abaelard äußerte sich Heloïsa zum Beispiel detailliert zur Todesthematik, ohne die Bilder und Formulierungen aus dem Gedicht von Argenteuil zu verwenden. Und auch die dort zu erkennende Vorliebe für das eher seltene Verbum quire - zweimalige Verwendung innerhalb weniger Zeilen - ist zwar in Heloïsas Briefen - 2. Brief und 3. Brief - nachzuweisen, aber eben nicht in der entsprechenden Häufung und nicht durchgängig in allen Briefen.
Titulus ecclesie sancte Marie Argentoilensis cenobii Anima domni Abbatis et anime omnium fidelium defunctorum in pace vera, qui Xpi(stus) est, requiescant. Oravimus pro vestris, orate pro nobis et pro nostris, Balduino comite, Basilia abbatissa, Adela abbatissa, Judit abbatissa, Helvide monacha, Adela monacha, Eremburge decana, Adelaide, Havide, Dodone laice et omnibus quorum nomina Deus in libro vite scribat.
Amen. |
Titel der Kirche des Klosters Sainte-Marie von Argenteuil Die Seele des Herrn Abtes, und die Seelen aller verstorbenen Gläubigen ruhen im wahren Frieden! Wir beten für Eure Verstorbenen, so betet auch Ihr für uns und die unsrigen, für Graf Balduin und die Äbtissinnen Basilia, Adela und Judith, für die Nonnen Heloïsa und Adela, für die Diakonin Eremburgis, für Adelaidis, Havidis und die Laienschwester Dodona, sowie für alle, deren Namen Gott in das Buch des Lebens schreiben möge.
Amen. |
Flet pastore pio grex desolatus adempto Soletur miseras turba fidelis oves Proh dolor hunc morsu sublatum mortis edaci Non dolor aut gemitus vivificare queunt Ergo quid lacrime quid tot tantique dolores Prosunt nil prodest hic dolor imo nocet Sed licet utilitas ex fletu nulla sequatur Est tamen humanum morte dolere patris Est etiam gaudere pium si vis rationis Tristitie vires adnichilare queat Mors etenim talis, non mors sed vita putatur Nam moritur mundo vivit et ipse deo Ores pro nobis omnes oramus ut ipse ( Xpistum) Et nos ad vitam perveniamus
Amen |
Die untröstliche Herde weint, denn der fromme Hirte wurde hinweggerafft. Die gläubige Schar möge die erbarmungswürdigen Schafe trösten. Welch ein Schmerz! Diesen durch den gefräßigen Biss des Todes Hinweggerafften kann weder Schmerz noch Wehklagen lebendig machen. Warum also Tränen? Was nützen so viele und so große Sorgen? Zu nichts ist dieser Schmerz nutze, vielmehr schadet er! Doch obwohl freilich aus dem Weinen kein Nutzen resultiert, So ist es dennoch menschlich, den Tod des Vaters schmerzhaft zu begleiten. Doch wäre es auch fromm, Freude zu empfinden, Wenn die Kraft der Vernunft die Kräfte der Traurigkeit aufzuheben weiß. Ein solcher Tod wird nämlich nicht für Tod, sondern für Leben gehalten. Denn gerade er, indem er für die Welt stirbt, lebt für Gott. Mögest du für uns bitten! Wie auch wir alle bitten, Dass er selbst wie wir zum Leben, Christus, gelangt. Amen. |
Nous pleurons le pasteur qui laisse son troupeau. Il entourait de soins ses brebis bien aimées! Hélas! Douleur profonde, il est mis au tombeau; Et toutes nos douleurs seront inconsolées! Mais pourquoi donc gémir? Mais pourquoi tous ces pleurs? Pourquoi tous ces chagrins? Pourquoi plus d'espérance? Bon pour l'homme incrédule aux suprêmes bonheurs. N'avons-nous pas en nous la douce confiance En la bonté de dieu pour calmer nos regrets? Sa mort! Mais c'est l'aurore, idéale et heureuse, De sa béatitude, aux lumineux reflets! Sa mort n'est pas la Mort, mais la vie radieuse. Prions, afin qu'un jour, nous aussi, nous puissions, Du Christ et de Vital, contempler les rayons!
Amen. |
The deserted herd cries for the pious shepherd who has been taken away: Let the faithful people comfort the miserable sheep. What pain! Neither sorrow nor lament can restore to life One taken away by the insatiable bite of death. Therefore why tears? What use so much and so deep sorrow? Sorrow here has no use, rather it harms. But although nothing useful follows from mourning. Nevertheless it is human to grieve the fathers death; It would be also pious to rejoice, if the power ot reason Is able to tear down the powers of sadness. For such a death is thought not to be death, but life. As he dies for the world, living himself for God. Please pray for us; we all may pray that he himself and we May come to life, to Christ. Amen. |
Charrier, C., Héloise dans l'histoire et dans la légende, Paris 1933, Reprint Genf 1977
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Delisle, L., Rouleau mortuaire du bienheureux Vital, abbé de Savigny, contenant 207 titres écrits en 1122-1123 dans différentes églises de France et d'Angleterre, Paris 1909
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